
Karosh Taha: Im Bauch der Königin; Dumont
Karosh Tahas neuer Roman Im Bauch der Königin erzählt aus zwei Richtungen von der Konfrontation kurdischer Einwandererkinder mit ihren absenten Vätern, von starken Frauen in einer kurdischen Community im Ruhrgebiet und von ambivalenten Verhältnissen zur eigenen Heimat. Dabei kommt er in Gestalt eines Wendebuchs daher, was mehr als nur die Wahl zwischen zwei Anfängen bietet. Bildreich und einfühlsam kontrastiert Taha zwei jugendliche Erzählerstimmen vor dem Hintergrund geteilter Familienschicksale und einer gemeinsamen Freundschaft. Insbesondere die divergenten Wahrnehmungen von Weiblichkeit und Mutterschaft der deutsch-kurdischen Protagonist*innen stehen dabei im Blickpunkt.
von SIMON HLAWATSCH
Ruhrgebiet. 252 km bis Frankfurt, rund 5 Flugstunden in den Nordirak. Ein Viertel mit türkischen Gemüseläden, Spielotheken und einer neuen Deichmannfiliale. Es gibt nur wenig Möglichkeiten, sich vor den neugierigen Blicken der Nachbarn zu verstecken. Ein Panoptikum aus Hochhäusern. Jugendliche kicken Bälle gegen die Wand eines Lidls und träumen von Karrieren als Rapper oder Fußballspieler, ein paar machen Abitur und wissen nicht recht, wie es danach weitergehen soll. Hauptsache weg!? Zu bleiben erscheint nur denen attraktiv, die nicht damit rechnen dürfen, dass das Fortgehen eine Besserung bringt – oder denen, die sich gezwungen sehen, zu gehen. Es sind vor allem die Mütter der kurdischen Community, die versuchen, ihr Leben im Viertel allen Widerständen zum Trotz aufrechtzuerhalten, während die Männer, denen sie einst nach Deutschland gefolgt sind, enttäuscht beschließen, in ihre frühere Heimat zurückzukehren – im Zweifel ohne ihre Familie.
Schauplatz und Sujet von Karosh Tahas gelungenem neuen Roman erinnern merklich an das 2018 erschienene Debüt Beschreibung einer Krabbenwanderung der 1987 im nordirakischen Zaxo geborenen Essener Autorin; erneut wird aus der Perspektive einer Generation, deren Eltern um die Jahrtausendwende als junge Paare aus dem Irak nach Deutschland kamen, vom konfliktreichen (Familien-)Leben in einem westdeutschen Wohnblockkosmos erzählt. Ganz ohne Rückgriffe auf stereotype Milieuschilderungen gelingt dies allerdings auch diesmal nicht. Erneut geht es dabei um abwesende Väter und die problematische Situation von Müttern, die gezwungen sind, sich allein um ihre Familien zu kümmern, während sie fürchten müssen, von einem von Doppelmoral geprägten Umfeld für vermeintliche Treulosigkeit diffamiert zu werden. Darauf, dass jedoch zweifellos sie die starken Figuren des Romans sind, verweist nun bereits dessen Titel: Unerkannt herrscht eine Königin über das Viertel, eine alleinerziehende Mutter, deren promisker Lebenswandel die Gemeinschaft in Aufruhr versetzt. Ihr Name erinnert eine der Romanfiguren an Scheherazade, die Erzählerin der Geschichten von Tausendundeiner Nacht: Shahira.
Warten auf den Vater
Shahira ist schön. Wenn sie mit ihren leuchtend roten Fingernägeln und ihren kurzen Röcken zur Arbeit als Kassiererin im Programmkino läuft, scheint sich alles nach ihr umzudrehen. Von den Händlern auf dem Wochenmarkt wird sie hofiert, einige prügeln sich gar um sie, die Frauen verachten sie dafür. Regelmäßig trifft sie sich mit wechselnden Partnern aus dem Viertel. Sie gilt als Ne-Sakin, eine abwertende Bezeichnung, die soviel heißt wie „ungehaltene, nicht wartende Frau“. Als ihr Ehemann vor zehn Jahren erfuhr, dass sie eine Affäre hatte, lockte er sie unter dem Vorwand eines Familienurlaubs in den Irak, um mit dem gemeinsamen Sohn Younes nach Deutschland zurückzufliegen. Shahira musste bleiben und konnte das Land nur dank der Hilfe eines Cousins verlassen. Zurück in Deutschland zeigte sie ihren Mann wegen Entführung an und erhielt das Sorgerecht für Younes, der seither auf die Rückkehr des Vaters wartet. Dieser lebt jedoch längst mit einer neuen Familie in Frankfurt. Younes schämt sich für seine Mutter und meidet es, in der Öffentlichkeit mit ihr gesehen zu werden. Während er als schüchterner Junge von seinen Mitschülern misshandelt wurde, ist er als Jugendlicher, den anderen Jungen körperlich überlegen, gleichermaßen respektiert wie begehrt. Die Freundschaft mit ihm ist es, die die beiden Erzählerfiguren des Romans – Amal und Raffiq – vereint und die mithin deren enges Verhältnis zu Shahira begründet, die beiden gleichsam zur Ersatzmutter wird. Wie Younes haben auch sie konfliktbehaftete Beziehungen zu ihren Vätern, im Irak ausgebildeten Architekten, die in Deutschland als Lageristen arbeiten und unter ihrem begrenzten Gestaltungsspielraum leiden. Während die 15-jährige Amal bereits vor Jahren von ihrem Vater verlassen wurde, plant Raffiqs Vater, ebenfalls zurück in den Irak zu ziehen. Die Wiederbegegnung mit den vermissten Vätern – sie ist, so viel sei verraten, notwendig enttäuschend – wird zu einem zentralen Motiv beider Erzählungen und ist ferner obligatorisch für das „coming of age“ der Protagonisten.
Ein Wendebuch
Taha verknüpft in ihrem neuen Roman drei Familienschicksale, erzählt in zwei Geschichten. Dabei erleichtert sie ihr Schreiben nicht nur von den mitunter etwas bemüht wirkenden Anleihen an den magischen Realismus des Vorgängers (ganz ohne dass dies einen Verlust an poetischer Suggestionskraft zur Folge hätte), sondern bedient sich auch eines buchgestalterischen Mittels, das der physischen Präsentationsform des Textes einen gewichtigen Einfluss auf die individuelle Lektüreerfahrung und das Deutungsangebot des Romans beimisst.
Im Bauch der Königin ist ein Wendebuch, also ein Buch, das in zwei Richtungen gelesen werden kann und will. Da es zwei Anfänge gibt, ist eine Vorder- oder Rückseite im eigentlichen Sinne nicht bestimmbar – die Enden beider Geschichten treffen sich in der Buchmitte. Schon die Gestaltung des Schutzumschlags nimmt sich dementsprechend aus: Zueinander um 180 Grad gedreht, sind beide Seiten vollkommen identisch. Zwei übereinanderstehende Augen, umgeben von drei mal drei sich kreuzenden Strahlen, blicken die Betrachtenden von beiden Seiten an. Eine Assoziation der Anzahl der Strahlen mit der der jugendlichen Protagonisten respektive der sich kreuzenden Familiengeschichten sowie der der Augenpaare mit den beiden Erzählerfiguren liegt freilich nahe. Die Innenseiten des Umschlags enthalten neben dem Klappentext der jeweiligen Erzählung je ein Porträtfoto der Autorin – einmal in schwarzer, einmal in weißer Kleidung – sowie zwei komplementäre Kurzbiographien. Die paratextuellen Elemente der ersten sechs unpaginierten Seiten (Titeleien) sind nahezu identisch und wie die Umschlagseiten und die beiden eigentlichen Erzähltexte zueinander um 180 Grad gedreht. Die symmetrische Form des Wendebuchs fordert die Lesenden zu einer Wahl auf, deren Folgen für die Lektüreerfahrung gleichermaßen unvorhersehbar wie maßgeblich sind; die Wahl, den Roman entweder mit Amals Erzählung oder mit der Raffiqs zu beginnen. Im einen wie im anderen Fall ist eine unvoreingenommene Lektüre der nachfolgenden, „zweiten“ Geschichte schlechthin nicht möglich, was immer wieder Irritationsmomente provoziert: Widersprüchliche Darstellungen – insbesondere der Beziehungen der drei jugendlichen Protagonisten zueinander – lassen an der Zuverlässigkeit des Erzählten zweifeln und machen darüber hinaus dessen Perspektivität sinnfällig.
Texträume
Indem sie sich für die Form des Wendebuchs entscheidet, verleiht Taha ihrem Roman zudem unweigerlich ein räumliches Zentrum, um das sich die beiden Geschichten buchstäblich drehen. Die Einbeziehung des konkreten Textraums (also des Raums „zwischen den Buchdeckeln“) in den literarischen Gestaltungsprozess erscheint dabei als naheliegender nächster Schritt, betrachtet man, dass die Autorin ihr Interesse an der Konzeption (fiktionaler) literarischer Räume schon im Vorgänger (und insbesondere im dazugehörigen Essay Der Raum im Roman ist ein Miterzähler) unter Beweis gestellt hat. Die räumliche Organisation des Textes spiegelt dessen narrative Struktur sowie die Entwicklung der Protagonisten, an deren Ende vor allem die Emanzipation vom eigenen Vater steht. Zur Königin und Übermutter stilisiert und zugleich die Repräsentationsfigur für all jene kurdischen Frauen des Viertels, die mit dem angeblichen Widerspruch von Mutterschaft und (sexueller) Autonomie konfrontiert sind, bildet Shahira dabei gleichsam das Gravitationszentrum des Romans, das einen Großteil der Figurenbewegungen zu motivieren scheint.
Nicht nur aufgrund seiner Form ist Im Bauch der Königin ein lesenswerter Roman. Taha gelingt auf 250 Seiten eine weitgehend differenzierte und glaubwürdige Figurenzeichnung, wobei insbesondere die einfühlsame und zugleich humorige Darstellung der unangepassten Amal überzeugt. Weitaus seltener als im Vorgängerroman erscheint es zudem, als würde die Autorin mit ihrer Fabulierlust und ihrer bildhaften Sprache die Figuren- und Erzählperspektive überschreiten. Indem sie die Väter des Romans selbst als Opfer (ihrer eigenen Erwartungen wie auch eines bürokratischen Systems, das ihre Integration erschwert) erkenntlich macht, schafft sie es ferner, Kritik an ihrer „Herrschaft“ zu üben, ohne dabei verächtlich oder plump-spöttisch zu werden. Einzig den Vorwurf einer mitunter etwas stereotyp wirkenden Milieuschilderung wird sich Taha erneut gefallen lassen müssen.
Karosh Taha: Im Bauch der Königin
Dumont Buchverlag, 250 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3832183943