Eigentlich heißt Glucks bekannteste Oper Orfeo ed Euridice – Orpheus und Eurydike –, das Essener Aalto-Musiktheater inszeniert den Klassiker jedoch unter dem Titel Orfeo | Euridice. Soll diese Trennungswand womöglich den Infektionsschutz symbolisieren? Man mag darüber grübeln, sollte jedoch nicht den Blick davor verschließen, dass es – endlich – wieder hochkarätige Opernkunst gibt, die nicht als Stream, sondern ganz physisch daherkommt. Eine gekürzte und angepasste azione teatrale zwar, dank Tomáš Netopils musikalischer Leitung jedoch ein Genuss.
von HELGE KREISKÖTHER
Das Aalto-Musiktheater beabsichtigte ursprünglich, die Spielzeit 2020/21 mit Richard Wagners Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg einzuläuten. Ein Bühnenspektakel mit drei Stunden Dauer und hochromantischer Großbesetzung ist im Herbst 2020 aber nach wie vor eine Illusion. Wenn Oper in COVID-19-Zeiten möglich sein soll, muss abgespeckt und der Abstand sowohl auf der Bühne und im Orchestergraben als auch in den Zuschauerrängen sichergestellt werden. Sucht man schließlich, um den Spielplan nicht länger leerlaufen zu lassen, nach alternativen Werken mit vergleichsweise geringer Besetzung, so fallen die großen Dauerbrenner des Repertoires – Fidelio, Freischütz, Aida, Carmen oder Tosca – wohl oder übel heraus. Im langen 18. Jahrhundert wird man schon eher fündig. Zum Beispiel bei Christoph Willibald Gluck.
Im selben Jahr geboren wie Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel (also 1714) und zwei Jahre vor dem Ausbruch der Französischen Revolution gestorben (also 1787), galt und gilt Gluck als der Opernreformator seiner Epoche. Zwar gab es auch eine Menge anderer Meister, die ab 1750 die barocke Opera seria von ihrem Schnörkel, dem streng kodierten Intrigenschema und dem bravourösen Koloraturzwang befreien wollten, doch war es Gluck, der sich nachhaltig durchzusetzen vermochte. Im Laufe der Zeit avancierte der Wahl-Wiener aus der Oberpfalz sogar zum populärsten Bühnenkomponisten zwischen Händel und Mozart. Tatsächlich markieren seine italienischen und – hierzulande bedauerlicherweise noch viel weniger bekannten – französischen Werke, bei aller Relativierung, einen maßgeblichen Wendepunkt in der Operngeschichte.
Besser Oper auf Abstand als Abstand zur Oper
Was passt besser zur Wiederaufnahme des Opernbetriebs nach Lockdown und Sommerpause als Glucks schlichte, zu Herzen gehende Kurzoper über die Beständigkeit der Liebe? In weniger als 90 Minuten wird eine nachvollziehbare Geschichte erzählt, die auf einem uralten Mythos basiert, aber ohne endlose Rachearien auskommt. Benötigt werden, abgesehen vom Chor, nur drei Protagonisten: Orfeo – in Essen: die Mezzosopranistin Bettina Ranch –, Euridice – Sopranistin Tamara Banješević – und der Liebesgott Amore – Christina Clark (Stimme) bzw. Emma Heinrich (Erscheinung). Dass die Uraufführung des Stücks bereits knapp 260 Jahre zurückliegt, unterstreicht, wenn man zuhört, nur, dass Orfeo ed Euridice bzw. Orfeo | Euridice zeitlose Schönheit enthält.
Diese Schönheit wird vor allem transportiert durch Glucks schwungvollen, melodiebetonten, wahrhaft klassischen Stil. Tomáš Netopil, wenngleich sonst eher bei der Komponistengeneration ab Mozart bis hin zu Dvořák & Co. zu Hause, entlockt den spärlich, aber historisch allemal korrekt besetzten Essener Philharmonikern großartige, weil zupackend-schlanke Klänge; die Holzbläser sind auch im Balkon noch wunderbar einzeln herauszuhören. Und wenn sich in der mitreißenden Ouvertüre, die in der Essener Inszenierung ans Ende platziert wurde, erstmals die Pauke meldet, ist man erfreut von der zünftigen Spielkultur. In gleichem Maße klingt der Chor des Aalto-Musiktheaters (Einstudierung: Jens Bingert) intonationssicher und glaubwürdig tragisch. Schade bloß, dass man das eigentlich abschließende Trionfi Amore ebenso weggestrichen hat wie so manche dialogische Passage. Bettina Ranch und Tamara Banješević überzeugen jedenfalls, obwohl stimmlich gelegentlich ein wenig forciert, auch darstellerisch. Allerdings ließe sich die Inszenierung von Paul-Georg Dittrich bösartig als One-Woman-Show bezeichnen, da Orfeo in Essen auch Takte seiner Gattin bzw. Amors übernimmt.
Ohne Videographie wäre alles nichts
Inszenatorisch soll der Abend Orfeo | Euridice vor allem eines sein: Die audiovisuell allgegenwärtige Auseinandersetzung mit dem Thema Körper – Seele, Leben – Tod, Verlust – Hoffnung etc. Ohne seinen Videokünstler Vincent Stefan wäre Dittrich dabei aufgeschmissen, denn vielfach werden Unterwasser-Projektionen aus Essener Schwimmbädern eingeblendet (stellvertretend für die Unterwelt, versteht sich) und darüber hinaus, den Partiturfluss unterbrechend, Statements von Ärzten und Pflegerinnen aus Essener Kliniken eingespielt (Dramaturgie: Svenja Gottsmann). Sie erzählen dem Publikum fachgerecht, aber offensichtlich mitfühlend von den Schlaganfall-Verläufen ihrer Patienten, von Bewusstseinsstörungen und dem Gefangensein im eigenen Körper. Das lässt niemanden unberührt – wirkt dramaturgisch aber häufig etwas fehl am Platz.
Andere Einfälle für die Kulisse und die virologisch wohl besonders streng beäugte zwischenmenschliche Interaktion auf der Bühne sind da weitaus stimmiger: etwa das durch Leuchtstangen abstrakt angedeutete Haus, in dem sich Orfeo abstrampelt, ohne seiner zum Greifen nahen Euridice auch nur einen Schritt näher zu kommen (Raum: ebenfalls P.-G. Dittrich). Oder die riesige, meereswellenartig über Euridice ausgebreitete Plastikfolie, die für einige Minuten auf etwas wirklich Schmerzliches, unleugbar Zeitgemäßes hinweist: An diesem Abend und auf dieser Ruhrgebietsbühne dürfen Orfeo und seine Angebetete nur zärtlich zueinander sein, weil sie der Kunststoff vor Aerosolen schützt.
Informationen zur Inszenierung https://www.theater-essen.de/spielplan/a-z/orfeo_euridice/
Nächste Vorstellungen:
Mittwoch, der 30. September
Samstag, der 03. Oktober
Sonntag, der 18. Oktober