Die Realität eines Bildungsversprechens

Deniz Ohde, Streulicht; Cover: Suhrkamp

Deniz Ohde schaffte es mit ihrem Debütroman Streulicht direkt auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020. Und das zurecht: Ruppig und doch feinsinnig schreibt sie über erlebte Ungleichheiten im Bildungssystem, über Zuschreibungen als Arbeiterkind oder Kind einer Migrantin und den Drang, sich davon zu befreien. Unausweichlich hinterlässt der Roman die Frage: Was bedeutet der Bildungsgedanke heute?

von ALINA BRAUCKS

Diffuses Streulicht, ein Licht, das durch Staubpartikel gebrochen und in eine andere Richtung gelenkt wird. Dieses Licht ist besonders in der Nähe von Industrieanlagen zu beobachten, dort wo kleine Teilchen im Licht der Beleuchtungsanlagen in der Luft umherschweben. In diesem undurchsichtigen, leicht bedrohlich wirkenden Licht des Industrieparks im Frankfurter Stadtteil Sindlingen ist die namenlose Ich-Erzählerin in Deniz Ohdes Roman Streulicht aufgewachsen, und dorthin kehrt sie nun zurück. Anlass dazu ist die Hochzeit ihrer beiden besten Freunde Pikka und Sophia. Während die Erzählerin die altbekannten Wege geht, erinnert sie sich an ihren Vater, der im naheliegenden Industriepark als einfacher Fabrikarbeiter arbeitete, nichts wegschmeißen konnte und zu viel trank  ̶  und ihre Mutter, die aus der Türkei migrierte und sich dann in der trostlosen Arbeiterwohnung wiederfand, ehe sie die Koffer packte und ihre Tochter bei ihrem zu Wutausbrüchen neigenden Vater zurückließ. Und sie blickt zurück auf ihren frühen Schulabbruch, auf die Scham, die sie empfand, als Pikka und Sophia die gymnasiale Oberstufe besuchen durften. Wie ist es dazu gekommen?

Bildungsgleichheit – ein leeres Versprechen? Geschichte einer Ausgrenzung

Mit dem Beginn ihrer Schulzeit merkt die Erzählerin, dass nicht nur der Beruf des Vaters und der Wohnort nahe des Industrieparks die Dinge sind, die sie von ihren Klassenkammerad*innen unterscheiden, sondern auch die türkische Herkunft ihrer Mutter. Sie bemerkt, dass es bei Pikka und Sophia daheim anders aussieht, dass die Eltern ihrer Mitschüler*innen sich beim Elternstammtisch in die erste Reihe quetschen, während ihr Vater sich ganz hinten unsichtbar macht. Das unsichere Verhalten und das fehlende Selbstbewusstsein erbt die Erzählerin von ihren Eltern, und es rächt sich in der Schule, wenn sie sich etwa beim „Eckenrechnen“ nicht traut etwas zu sagen und der Lehrer sie deshalb für weniger clever hält. Doch zusätzlich zur toxischen Familiendynamik und der folglich verinnerlichten Abwertung sieht sich Ohdes Erzählerin weiter mit latentem Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung der Gesellschaft konfrontiert. Die Ausgrenzung beginnt damit, dass es im Geschäft keinen personalisierten Schulranzen mit ihrem Namen gibt und endet noch lang nicht, wenn der Lehrer im Französischunterricht die deutschen Wörter extra für sie wiederholt. Auf bemerkenswerte Weise gelingt es Deniz Ohde, den abstrakten Begriff struktureller Diskriminierung an der konkreten Biografie ihrer Erzählerin zu verdeutlichen, ohne dass die Worte Rassismus, Diskriminierung und Ausgrenzung in deren Vokabular auftauchen. Immer wieder drängt sich dem Lesenden die Frage auf: Was bedeutet der Bildungsgedanke heute im Jahr 2020? Die Zugehörigkeit zu einer Mehrheitsgesellschaft, die Meinungen von Autoritäts- und Lehrpersonen, ein Hineingeborensein in die „richtigen“ sozialen Verhältnisse? Ohde gibt darauf keine Antwort, zeigt aber eindrücklich, dass für einen erfolgreichen Bildungsabschluss nicht nur ausschlaggebend ist, woher die Eltern kommen, sondern auch, in welchem Bezirk der Stadt man geboren wurde.

Einfach, schnörkellos, ohne Tricks

Streulicht ist ein Roman, der durchgängig eine kalte, fast schmerzliche Atmosphäre hervorruft. Auch wenn die Ich-Erzählerin Erfolge feiert, scheint die fortwährende Anwesenheit des Industrieparks alles in einen bedrohlichen Schatten zu stellen und das Erwachsenwerden der Protagonistin mit seinem künstlichen Industrieschnee zu bedecken. Der Erzählton neigt zur Melancholie, die hier und da durch mürrischen Humor beiseitegeschoben wird. Etwa wenn die Erzählerin von ihren Lehrer*innen spricht, die „nur Lehrer geworden waren, weil ihnen nichts besseres eingefallen war“ und wütend wurden, wenn Kinder begannen „eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und etwas zu mögen, das nicht die Ilias war […]“. Eine überraschende Aussage der Erzählerin, denn solche Pauschalisierungen findet man ansonsten nicht. Die Beschreibungen sind oft sehr detailliert und dennoch nüchtern. Nie gibt sie ihren Eltern, ihren Lehrer*innen oder sich selbst die Schuld an der vorerst gescheiterten Schullaufbahn, sie schildert lediglich ihre Erinnerungen: nüchtern, aber keinesfalls distanziert. Der Verzicht etwa auf Sprachbilder und komplexe Erzähltechniken schafft ein angenehm zügiges Tempo der Geschehnisse, die somit umso prägnanter erscheinen.

Diffuses Streulicht, ein Licht, das durch Staubpartikel gebrochen und in eine andere Richtung gelenkt wird. Ohde lenkt das Licht auf etwas, auf das viele Mitmenschen dank eines privilegierten Lebens nicht schauen müssen – genau deshalb aber schauen sollten.

Deniz Ohde: Streulicht

Suhrkamp Verlag, 284 Seiten

Preis: 22,00 Euro

ISBN: 978-3-518-42963-1

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