Die Redaktion empfiehlt…

Mit 2020 liegt ein äußerst bewegtes Jahr hinter uns. COVID-19 hat unseren Alltag auf den Kopf gestellt. Auch für 2021 werden durch die Pandemie notwendig gewordene Einschränkungen unseren Alltag langfristig bestimmen. Zugleich gibt es jedoch einen Hoffnungsschimmer am Horizont mit den zugelassenen mRNA-Impfstoffen, sodass vielleicht in nicht allzu ferner Zukunft eine Normalisierung unseres Lebens beginnen kann. Doch ist da ja noch der Lockdown, dessen Verlängerung immer wahrscheinlicher scheint. Um die Zeit zu Hause ein wenig vergnüglicher zu machen, hat sich unsere Redaktion deshalb einige Empfehlungen für diese aufregende Zeit einfallen lassen. Wir wünschen Euch einen angenehmen Start in das neue Jahr, beste Gesundheit und natürlich viel Vergnügen bei der Lektüre!

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst, Cover: S. Fischer

Alina Braucks

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

Tochter einer DDR-Punkerin und eines angolanischen Mannes, Schwester eines Zwillingsbruders, der mit 19 Jahren ums Leben kam, Enkelin einer Frau, die man am Tag der Bundestagswahl davon abhalten muss, eine rechte Partei zu wählen. Die Theaterautorin, Performerin und Musikerin Olivia Wenzel stellt in ihrem Debütroman eine schwarze, ostdeutsche Ich-Erzählerin vor, die durch ihre Herkunft, ihre Wurzeln, ihr Geschlecht zugleich mehrfach marginalisiert ist, aber sich dennoch als Profiteurin einer kapitalistischen Wertegemeinschaft versteht. Zwei der drei Romanabschnitte sind dialogisch gestaltet, in denen nicht ganz deutlich wird, wer hier spricht. Provozierende Fragen, spitze Bemerkungen und zum Teil spontane, zum Teil reflektierte Antworten geben dem Roman ein rasantes Tempo und eine spannende Dynamik. 1000 Serpentinen Angst ist eine beeindruckende literarische Auseinandersetzung mit all den unangenehmen Fragen und ebenso unangenehmen Antworten unserer Zeit und verliert trotz der akuten Ernsthaftigkeit seinen Humor nicht.

(S. Fischer 2020, 352 Seiten, 21,00 Euro.)

Reemda Hahn

Patrick Modiano: Dans le café de la jeunesse perdue (Im Café der verlorenen Jugend)

Paris der frühen Sechzigerjahre: Vier Stimmen erzählen von Louki, einer jungen Frau, die ihrem Ehemann weggelaufen ist und nun regelmäßig das Café Condé besucht, wo niemand ihren wahren Namen kennt. Sie ist ständig auf der Flucht – sowohl vom einen Seine-Ufer zum anderen als auch in die Esoterik und Literatur – und dabei auf der verzweifelten Suche nach Schwerelosigkeit.

Modiano, Nobelpreisträger aus dem Jahr 2014, gelingt es, diesen Schwebezustand eindrücklich zu vermitteln. Man wird mit Ungewissheiten zurückgelassen und tut sich schwer, die erzählenden Perspektiven zeitlich einzuordnen. Dabei wird Paris so atmosphärisch beschrieben, dass man glaubt, die Figuren auf ihren nächtlichen Spaziergängen durch die Arrondissements und engen Gassen der Stadt zu begleiten. In Krisenzeiten ein wunderbares Buch, um zu reisen, ohne zu reisen.

(Französischsprachige Ausgabe: Folio 2007, 176 Seiten, 6,90 Euro.
Deutschsprachige Ausgabe: dtv 2013, 160 Seiten, 8,90 Euro.)

Patrick Modiano: Im Café der verlorenen Jugend, Cover: dtv
Kenzaburō Ōe: Reißt die Knospen ab…, Cover: Fischer Taschenbuch

Caro Kaiser

Kenzaburō Ōe: Reißt die Knospen ab…

Japan, Anfang der 1940er: Eine Gruppe schwer erziehbarer Jugendlicher muss wegen Bombenangriffe in die Provinz evakuiert werden. Anstatt auf Mitgefühl und Solidarität stoßen die Jungen dort aber auf Ablehnung und Feindseligkeit. In einem abgelegenen Bergdorf finden sie schließlich Unterkunft, jedoch werden sie von den Dorfbewohnern wie Sklaven behandelt. Tagsüber müssen sie die Kadaver von Tieren vergraben, die an einer merkwürdigen Seuche krepiert sind. Als der Verdacht aufkommt, dass auch Menschen an der Seuche erkranken können, verlassen die Dorfbewohner schlagartig ihre Heimat und versperren den zurückgebliebenen Jungen den einzigen Ausweg aus dem verseuchten Dorf. Auf sich allein gestellt, beginnen die Jugendlichen sich ihre eigene Gesellschaft aufzubauen, um zu überleben.

Mit gerade einmal 23 Jahren hat der spätere Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe diesen Coming-of-Age-Roman geschrieben, der eindrucksvoll sowohl die Grausamkeit als auch die Hilfsbereitschaft der Menschheit darstellt. Ōe Sprache ist geradeheraus und klar, ihm gelingt es aber nichtsdestotrotz, die bedrückende, kalte Stimmung literarisch ansprechend zu vermitteln. Wer sich für japanische Literatur interessiert, von Ōe aber bisher nichts oder nur seine späteren Werke gelesen hat, der sollte definitiv einen Blick in dieses Frühwerk werfen.

(Fischer Taschenbuch 1999, 224 Seiten, 9,95 Euro.)


Thomas Stöck

Rainer Wieland (Hrsg.): „Stand spät auf, legte mich aber dann wieder hin“. Durch das Jahr mit dem Buch der Tagebücher. Mit Einträgen von Hannah Arendt, Anne Frank, Alexander von Humboldt, Thomas Mann, Samuel Pepys, Romy Schneider, Andy Warhol, Virginia Woolf und vielen mehr

Das Tagebuch – es ist wohl der Hüter des Geheimsten, was Menschen Buchseiten anvertrauen können. Wer dieser Tage keine Zeit oder Muße findet, selbst ein paar Zeilen zu Papier zu bringen, dem sei Rainer Wielands Streifzug durch 500 Jahre Geschichte und die Tagebücher von über 180 Autoren anempfohlen. Der Leser, der „den Blick durchs Schlüsselloch“ wagen möchte, kann das kalendarisch aufgebaute Werk dem Seitenfluss folgend genießen oder sich – unter Zuhilfenahme des Registers – seine Lieblingsautoren aus dem reichen Angebot herauspicken. Dabei bewegen sich die Einträge zwischen Themen wie „Liebe, Krankheit, Armut, der Tod eines Nahestehenden, politische Umwälzungen, Krieg und Verfolgung, de[m] Ausbruch einer Epidemie“ oder auch trivialen Feststellungen wie Kafkas Bemerkung: „Nichts geschrieben.“ Es menschelt so herrlich im Tagebuch!

(Piper 2020, 704 Seiten, 40,00 Euro.)

Rainer Wieland (Hrsg.): „Stand spät auf, legte mich aber dann wieder hin“, Cover: Piper
Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten, Cover: Luchterhand

Alina Wolski

Ferdinand von Schirach: Kaffee und Zigaretten

Dass Ferdinand von Schirach ein Gespür für den Umgang mit Sprache hat, beweist er insbesondere in Kaffee und Zigaretten auf eindrucksvolle Weise. Der Volljurist schreibt in diesem Werk so persönlich, wie nie zuvor. Seine Gedanken über das Rechtssystem, aber auch die Funktionsweise der Welt, Geschichten aus seinem Leben sowie der Vergangenheit seiner Familie überzeugen durchgängig mit Abwechslungsreichtum, einem spannenden Verhältnis zwischen Distanz und Nähe sowie einer überaus poetischen Sprache, die jeden Impuls, das Buch wegzulegen, vollkommen unterdrückt. Nur die letzte Seite fällt etwas aus dem Bild – ist Glück wirklich eine Frau, die einem Mann die Schuhe zubindet? Oder ist das schon Sexismus? Überzeugen Sie sich selbst!

(Luchterhand 2019, 192 Seiten, 20 Euro.)

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