Brot und Kriege

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen; Klaus Wagenbach

In ihrem dritten Roman Ein Tag wird kommen erzählt die italienische Autorin Giulia Caminito die Geschichte zweier ungleicher Brüder aus ärmlichen Verhältnissen zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Dass gerade die Figuren dabei blass bleiben, ist bedauernswert, wird aber durch die Thematisierung der sozialen und gesellschaftlichen Konflikte, mit denen die Figuren zu kämpfen haben, zumindest teilweise aufgewogen. 

von CAROLIN KAISER 

Der Anarchist hat ein Imageproblem. Krawall, Randale, brennende Mülltonnen, schwarzvermummte Prügelknaben – die Bezeichnung „Anarchist“ bleibt auch rund 150 Jahre nach dem Tod des ersten selbsterklärten Anarchisten, Pierre-Joseph Proudhon (Soziologe und Philosoph ohne historisch überlieferte Straßenkampferfahrung) eher mit gewaltigen Taten als mit gewaltigen Ideen assoziiert. Bombenanschläge und Attentate auf monarchische Staatsoberhäupter in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sorgten dafür, dass auf lange Zeit Anarchisten in der öffentlichen Wahrnehmung vor allen Dingen als Krawallos vom Dienst gesehen wurden – und weniger als politische Aktivisten mit hoffnungsvoll-utopischen Zukunftsvisionen für eine gerechtere Gesellschaft. Besonders in Italien, wo sich der Anarchismus bei den unteren Klassen großer Beliebtheit erfreute, stand man als Anarchist um die Jahrhundertwende unter Generalverdacht. In Ein Tag wird kommen (ital. Un giorno verrà) der italienischen Autorin und Anarchisten-Urenkelin Giulia Caminito spielen auch eben diese italienischen Anarchisten eine zentrale Rolle.  

Der Tod als ständiger Hausgast 

Erzählt wird die Geschichte der beiden Brüder Lupo und Nicola Ceresa, die in dem kleinen Dorf Serra de‘ Conti in den Marken wohnen. Der Vater hasst seine Arbeit als Bäcker, die Mutter ist blind und die Geschwister sterben in regelmäßigem Rhythmus. Um die Familie finanziell über Wasser zu halten, fängt Lupo bereits früh an, auf den Feldern rund um das Dorf auszuhelfen. Nicola hingegen verlässt kaum das Haus und flüchtet sich stattdessen in seine eigenen Gedanken. Obwohl Lupo und Nicola verschiedener nicht sein könnten, besteht zwischen den beiden Brüdern ein starkes Band – das sich jedoch hauptsächlich dadurch stärkt, dass der mit beiden Beinen im Leben stehende Lupo sich als Beschützer des schwächlichen, lebensfremden Nicola auserkoren sieht. Diese ungleiche Beziehung – das wird dem Leser früh vermittelt – birgt Konfliktpotenzial. Dass Lupo in die politischen Fußstapfen des anarchistischen Großvaters tritt, der Erste Weltkrieg auch bei den Ceresas zur Musterung anklopft und die Spanische Grippe in Serra de’ Conti Einzug hält, macht das ohnehin schon konfliktgeladene und entbehrungsreiche Leben der Protagonistenfamilie noch um einiges schwieriger.   

Bitte aufgepasst! 

Anders als Lupo, der – zumindest zu Beginn des Romans – sehr um seinen jüngeren Bruder Nicola bedacht ist, nimmt der Roman selbst seine Leser nur sehr lose bei der Hand. Ähnlich wie im alltäglichen Leben in Serra de’ Conti kommt man auch beim Lesen von Ein Tag wird kommen nicht weit, wenn man sich nicht anstrengt. Die Handlung erstreckt sich über mehrere Jahrzehnte, wobei die Jahre kurz vor und während des Ersten Weltkrieges im Fokus stehen. Die Chronologie wird dabei nur grob beibehalten und meist zu Beginn jedes Kapitels, oft auch mittendrin, durch Rückblenden durchbrochen. Diese Erzählweise bereichert die Handlung an vielen Stellen durch zusätzliche Dynamik. An manchen Stellen allerdings endet das Spiel mit dem chronologischen Bruch in der kurzzeitigen Desorientierung des Lesers – besonders dann, wenn eine Rückblende mehrere Paragraphen verstreichen lässt, ohne den Namen der im Mittelpunkt stehenden Figur zu nennen und der Leser davon ausgehen muss, dass es dieselbe Figur ist wie die, von der auf den vorherigen Seiten erzählt wurde. Dies ist jedoch mehr als einmal nicht der Fall, was in frustriertem Zurückblättern und Neulesen endet.  

Caminito deswegen als unkonzentrierte Autorin zu charakterisieren wäre allerdings böswillig, es scheint sich hierbei eher um die Schlafmützigkeit des Lektors zu handeln. Caminito zeigt nämlich ein durchaus feines Gespür dafür, was sie ihren Lesern andeutet und welche Schlüsse diese daraus ziehen können. Stück für Stück setzt sich so für den Leser ein komplexeres Verständnis der Gefühlswelt der Protagonisten und ihrer Beziehungen untereinander zusammen. Jedoch setzt der Roman dafür die Aufmerksamkeit des Lesers voraus. Wer nur husch, husch nebenbei oder abends im Halbschlaf liest, der wird vermutlich schnell die Geduld mit Caminitos metaphern- und relativsatzreichem Sprachstil verlieren.  

Weniger Brüder, mehr Anarchisten! 

Wer sich hingegen den Ansprüchen des Romans fügt, dem bietet Es wird ein Tag kommen einen intensiven, wenn auch kurzen und beschränkten Einblick in das Leben des ländlich-armen Italiens zur Zeit des Ersten Weltkrieges. Die Armut der Bauern und ihr angespanntes (Abhängigkeits-)Verhältnis zu den Gutsbesitzern, deren Felder sie bestellen; die revolutionären Träume der Anarchisten und die Gewalt mit der der Staat sie unterdrückt und verfolgt; die starke Stellung des katholischen Glaubens in der Gesellschaft; das niedrige Bildungsniveau, die schlechten Zukunftsperspektiven und natürlich der Erste Weltkrieg und die Spanische Grippe, die ganze Landstriche in Italien entvölkern – die Stärke von Caminitos Roman liegt weniger in seinen Figuren, als in seinem konfliktreichen historischen Handlungsort und –zeitraum. Während die ersteren dem Leser eher fremd und distanziert bleiben und in ihrer Originalität nicht unbedingt preisverdächtig sind, schafft es Caminito dem Leser einen glaubwürdigen Eindruck von den alltäglichen Schwierigkeiten der armen italienischen Landbevölkerung in den 1910er Jahren zu vermitteln. Besonders das turbulente Leben der italienischen Anarchisten um die Jahrhundertwende erweist sich als reiches Material für einen historischen Roman, dessen Potenzial indes leider von Caminito nicht komplett ausgeschöpft wird. Lupos Verflechtung mit der anarchistischen Bewegung Italiens tritt gegenüber seinem Verhältnis zu Nicola stark in den Hintergrund – eine unglückliche Entscheidung Caminitos, da die Stärke ihres Romans wie gesagt nicht in seinen Figuren liegt.  

Trotzdem lässt sich eine Empfehlung für Ein Tag wird kommen aussprechen. Vielleicht nicht für Freunde leichterer Lektüren und innovativer Figurenzeichnungen, aber auf jeden Fall für all jene, die sich für die literarische Verarbeitung des Ersten Weltkriegs interessieren – es muss ja nicht immer Verdun sein. 

Giulia Caminito: Ein Tag wird kommen 

Aus dem Italienischen von Barbara Kleiner 

Verlag Klaus Wagenbach, 272 Seiten 

Preis: 23,00 Euro 

ISBN: 978-3-8031-3325-0 

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