Kolumne: In der lesBar mit Timm Rautert und Oliver Zeter

Eine fotografische Vision, ein geöffnetes Museum, ein Haufen Deutscher in Uniform, ein Bedürfnis nach Dokumentation und ein ungesüßter Sprudel: Willkommen zur Vernissage in der lesBar!

von NICK PULINA

Servus in die Runde!

Haben Sie sich auch schon einmal gefragt, was unsere Welt heute eigentlich noch zusammenhält? Ist es die Wissenschaft? Die Ethik? Am Ende der bloße Zufall? Ich glaube, die größte verbindende Kraft liegt in der Kontinuität. Was schafft mehr Zusammenhalt als die gemeinsame Erfahrung eintreffender Erwartungen? Gut, der gemeinsam erlebte Bruch derselben. Gehen wir doch aber mal vom best case aus. Wenn wir also unsere lesBar so gestalten wollen, dass sie zumindest auf den ersten Blick unser Bedürfnis nach Erwartbarkeit befriedigt, braucht es drei Dinge: guten Service (mein Job), interessierte Gäste (Ihr Job) und ein gut kuratiertes Portfolio an kulturellen Veranstaltungen – oder kennen Sie heute noch ein Café, in dem keine smoothen Jazz-Matineen oder erquickenden Krimi-Abende stattfinden? Unser Programm für diesen Monat: Kunst. Erwartung erfüllt? Lassen Sie es mich präzisieren: bildende Kunst – genauer gesagt: Fotografie! Werfen Sie sich Ihren Künstler:innenschal um, schnappen Sie sich ein Glas Sekt (es gibt schließlich Regeln!) und feiern Sie mit mir die Vernissage von Timm Rauterts Retrospektive im Museum Folkwang.

Schieben Sie es auf meine fotografische Banausigkeit, dass mir Herr Rautert bis zu seinem 80. Geburtstag vollends unbekannt war. In Anbetracht seines Werkes kann es für diese Ignoranz meinerseits keine Erklärung geben, die weniger unangenehm daherkäme. Wahrscheinlich hätte ich ihn sogar noch länger nicht auf dem Radar gehabt, wenn die pandemiebedingte Needyness (in grauen Vorzeiten ‚Notgeilheit‘ genannt) nicht so langsam vom Bett in die Kultur ausgelagert worden wäre und ich nicht wie ein Verhungernder nach jedem Häppchen ‚realer‘ Kunst geschnappt hätte. Ja, uns fehlt das Theater, uns fehlen die Live-Konzerte, uns fehlen orgiastische Performance-Riten mit Körperkontakt und Schweineblut, aber ist Ihnen aufgefallen, wie sehr uns ein einfacher Museumsbesuch fehlt? Und sei es auch nur im kleinen historischen Museum nebenan: er fehlt! Was zunächst als klassisches First-World-Problem erscheint, entpuppt sich dann aber doch recht schnell als ein unterschätztes menschliches Bedürfnis. Ja, wir können zwar ohne Theater, Konzertsäle und Museen überleben, viel mehr aber auch nicht. 

Umso erfreulicher stimmt es, dass nun zumindest einige der Kunsttempel wieder ihre Jünger zur Huldigung vorlassen. So auch das Museum Folkwang in Essen. Was Sie für einen Besuch brauchen? Nicht mehr als eine medizinische Maske, ein zeitlich terminiertes Ticket und neuerdings (Stand 03.04.) einen möglichst negativen Covid-Schnelltest. Keine Hürden, die wir nicht auf uns nehmen würden, oder? Noch schnell einmal die Toilette besucht und die Mäntel abgegeben und schon sehen wir uns dem Leben eines fotografischen Urgesteins gegenüber, das uns hier in über zehn Ausstellungsräumen präsentiert wird.

Rauterts Fotografien sind wegweisend, sie sind unkonventionell, teils urkomisch, aber auch emotional anrührend und aufregend. Er produziert Porträts, die der Gattung eine gänzlich neue Relevanz verleihen. Porträts? Sie meinen Schnappschüsse von Menschen? Kann doch jeder! Schauen Sie sich Rauterts Porträt von Pina Bausch oder Gerhard Richter an – schon setzt die Reflexion ein! Selbst vermeintlich trockenem Dokumentationsmaterial wird durch Rauterts Linse eine nur schwer fassbare Lebendigkeit zuteil. In seinen Serien The Amish und The Hutteries dokumentiert er beispielsweise soziale Gruppen, die es aus religiösen Gründen eigentlich strikt ablehnen, fotografisch eingefangen zu werden. Diese Aufnahmen sind keine gefällige Knipserei, sondern handfeste Zeugnisse einer Welt, die vielen von uns fremder kaum sein könnte und außerdem unerhörte Produkte der Kunst. Natürlich steht die Frage im Raum: Muss man unbedingt Menschen fotografieren, die es aus persönlichen Gründen eigentlich ablehnen? Die Kunst sagt: vielleicht.

(Timm Rautert 
Liane Schneider, 33 Jahre, Ground-Hostess, Deutsche Lufthansa, 1974
aus: Deutsche in Uniform
C-Print, 28,7 x 22 cm
Leihgabe des Künstlers © Timm Rautert)

Mein persönliches Highlight der Ausstellung: Rauterts Serie Deutsche in Uniform. Es handelt sich um eine petersburgisch (also sowohl über- als auch nebeneinander) gehängte Palette an Fotografien, die allesamt meist eine Person in ihrer Arbeits- oder Vereinskluft zeigen. Die Ironie und das Augenzwinkern sind beinahe körperlich spürbar. Es macht Spaß, den Blick über die Wand mit den Bildern gleiten zu lassen, zu schauen, welche Uniformen man erkennt und welche heute bereits abgelegt sind. Lassen Sie sich darauf ein und Sie werden herzlich lachen, zumindest aber schmunzeln.

Sie fragen sich inzwischen sicherlich, was Sie da kunstkennerkonform eigentlich in Ihrem Glas spazieren tragen. Ich habe mich entschlossen, Ihnen zum Kunstgenuss (von Timm Rautert) eine Zero-Dosage des pfälzischen Winzers Oliver Zeter einzuschenken. Zero Dosage bedeutet erst einmal nicht viel mehr als ‚ungezuckert‘. Normalerweise wird jedem Schaumwein (Sekt, Champagner, Cava etc.) im Laufe seiner Herstellung Zucker in Form von Süßwein oder Most zugeführt, um die in der Gärung entstandene Säure abzumildern. Zeter entscheidet sich bei seinem Sekt Zéro Grande Cuvée Extra Brut, der stolze 64 Monate auf der Hefe gelegen hat, allerdings bewusst gegen das Zuckern, was seiner Rolle als Winzer sehr viel mehr Verantwortung abverlangt. Denn wenn ein Sekt mal zu lange gegoren hat, kommt einfach genug Zucker dazu, dann schmeckt das schon niemand. Das geht bei einer Zero Dosage eben nicht: Zeter muss von Anfang an alle Variablen der Herstellung bedenken und genau beobachten, wie sich sein Produkt verhält. Hier finden Sie die Parallele zur Fotografie im Allgemeinen und zu Timm Rautert im Speziellen: Planung, Beobachtung, unkonventionelles Arbeiten.

Was dabei herauskommt, riechen und schmecken Sie: Noten von Lakritz, Veilchen, Honig und überreifen gelben Früchten in der Nase, teigige Anklänge erinnern am Gaumen an Brioche und sogar an Plundergebäck. Die Säure ist trotz Zero Dosage dezent und wunderbar eingebunden, die Perlage fein und angenehm im Mund. Trinken Sie ihn unbedingt aus Weißweingläsern, auch wenn es dann nicht mehr so vernissage-like aussieht. Der Sekt wird es Ihnen danken!

Ihr 

Nick Pulina

PS: Sie haben noch bis zum 16.05. Zeit, sich die Ausstellung Timm Rautert und die Leben der Fotografie im Museum Folkwang in Essen anzusehen. Ticket 8€, erm. 5€.

PPS: Sollten Sie es geschafft haben, ein Ticket für Andy Warhol im Museum Ludwig in Köln zu ergattern…Ich bin bereit einiges für so ein Ticket zu tun! Schreiben Sie mir @cultinanick bei Instagram.

5 Gedanken zu „Kolumne: In der lesBar mit Timm Rautert und Oliver Zeter

  1. Wie zuvor auch einfach nur wunderbar geschrieben und sehr unterhaltsam! Der Artikel weckt auf jeden Fall mein Interesse die Ausstellung zu besuchen.
    Und als echte Pfälzerin kann ich bestätigen, dass der Sekt sehr gut ist;)

  2. Ich mag die Kolumne und deinen Schreibstil sehr! Beim Lesen musste ich die ganze Zeit lächeln. Mir fehlen die Besuche im Museum ebenfalls, aber es ist schön durch deinen Text der Kunst wieder etwas näher zu sein.:)

  3. Eine tolle Kolumne! Wie schon im ersten Text eine wunderbare Verbindung von Kunst, Genuss und einem exzeptionellen Stil!

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