Ein windiger Rosé, ein alkoholischer Stammbaum, ein junges Ding mit viel Charakter, ein amerikanischer Physiker, ein Plan zur Rettung der Welt, ein Nichts im Nirgendwo, ein alternativer Urlaubsort, eine Anti-Wanderratte und Berge, Berge, Berge. Herzlich willkommen zum Spieleabend in der lesBar!
von NICK PULINA
Servus in die Runde! Wie Sie sicherlich bereits gemerkt haben: Die Urlaubszeit steht vor der Tür. Schnorcheln auf Mauritius, Fotosafari in Kenia, Theater-Marathon in New York oder angewandter Klimawandel auf der Queen Mary II. Was all diese Unternehmungen gemeinsam haben? Sie werden (zumindest für uns) in diesem Sommer nicht stattfinden. Verweilen Sie in einem Moment der ungestillten Wanderlust, aber versauern Sie mir nicht zu sehr, das Glück liegt in der Nähe – oder eher: in der Höhe.
Haben Sie schon einmal Urlaub in den Bergen gemacht? Und damit meine ich nicht Sie, liebe (Après-)Ski-Häschen, sondern die ehrlichen Wandersleut unter Ihnen, die mit einem Lied auf den Lippen und zünftiger Kleidung über die erhabenen Höhen der alpinen Gebirgslandschaft kraxeln und nur mit wohlig geröteten Wangen ihre wohlverdiente Erholung finden. Nein? Ich auch nicht. Und ehrlich gesagt: Ich habe es auch nicht vor. Ich bin ein Meer-Mensch, brauche die Weite und weiß vor allem die Fläche sehr zu schätzen. Umso interessanter ist für uns Kletter-Muffel das Motto des aktuellen Spieleabends in der lesBar: der Charme alpiner Exklaven und der Reiz der abgeschiedenen Bergluft. Und das Schöne: Sollte die bildundtonfabrik Sie inspirieren, fahren Sie in die Berge, niemand wird sie aufhalten – solange Ihnen der Sinn nicht unbedingt nach dem Himalaya steht. Und wenn nicht, öffnen Sie sich ein Glasl Rosé vom Gut Oggau und genießen Sie die bergigen Freuden als Videospiel. Am Ende suggeriert Urlaub doch vor allem eines: Entscheidungsfreiheit.
Bevor wir zum künstlerischen Werk dieses Monats kommen, sollten Sie zunächst einmal etwas ins Glas bekommen. Stephanie und Eduard Tscheppe-Eselböck sind die Winzer*innen des österreichischen Gut Oggau, das am Neusiedlersee im Burgenland idyllischer kaum gelegen sein könnte. Hier keltern die beiden die wahrscheinlich einprägsamsten Weine der Alpenrepublik oder gar des ganzen deutschsprachigen Raums. Bei Oggau haben sie keine schnöden oder völlig zusammenhangslosen Namen à la Pinot Noir 2020 oder Runzelbacher Rummelplätzchen – Sie haben Namen im herkömmlichsten Sinn! Hier heißen die Weine Theodora, Mechthild, Timotheus und so weiter. Das beste an der Sache: Sie heißen nicht nur wie Menschen, sie sehen auch noch so aus, haben ein Gesicht und Charakterzüge. Das ist zum einen natürlich sehr geschicktes Marketing – Wer blickt bei einem normalen Winzer-Portfolio schon wirklich durch? –, zum anderen aber auch eine äußerst charmante Idee, Wein auch besonders für Einsteiger*innen greifbar und schlüssig zu beschreiben. Wer hört, Theodora sei halt ein bisschen frech und keck, aber für ihr junges Alter schon sehr elegant, verlässlich und konstant, denkt sicherlich im ersten Moment, dass es sich hierbei um ein jugendliches Mädchen und nicht um eine Weißweincuvée aus Welschriesling und Grünem Veltliner handelt. Auf Gut Oggau gibt es keine Primär-, Sekundär- und Tertiäraromen auf irgendwelchen Aromarädern – das heißt, es gibt sie schon, aber sie werden in Form von Charakterisierungen verständlicher beschrieben. Dass manche jungen Weine aromatisch leider etwas hinter den Erwartungen zurückbleiben, ist nicht weiter tragisch, denn die Weine bilden zusammen einen Stammbaum, der über drei Generationen ihre Qualität illustriert. Je älter die Reben und je größer und hochwertiger somit der jeweilige Wein, desto erfahrener sind auch sein Gesicht und seine Persönlichkeit. An der Spitze der Genealogie wachen die beiden Großeltern Mechthild (Grüner Veltliner) und Bertholdi (Blaufränkisch) auf ihren 60 Jahre alten Reben über die Familie.
Ich schenke Ihnen nun ein Glas von der jungen Dame Winifred ein, die – trotz ihrer Jugend (Jahrgang 2020) und dem Umstand, dass es sich bei ihr um einen Roséwein handelt – schon sehr viel Power hat und Sie die sportlichen Belastungen einer Bergbesteigung mühelos vergessen lässt. Sie hat nichts mit den Bonbonwasser-Rosés zu tun, die aktuell wieder in Unmengen mit Wasser gepanscht an den Badeseen dieses Landes konsumiert werden, sondern ist von vornherein als Ganzjahresrosé angelegt. Zum Vergleich: Die meisten Supermarkt-Rosés entstehen aus roten Reben, die sich z. B. aufgrund von Fäulnis nicht mehr dazu eignen, einen qualitativ ausreichenden Rotwein zu keltern; für Rosé reicht’s dann immer noch. Winifred ist zwar zunächst etwas zurückhaltend in der Nase und kommt beinahe pastellrosa ins Glas, entfaltet sich aber nach einem Moment des Schwenkens und gibt wunderbar mineralisch-rotfruchtige Duftnoten frei, die sie aus den von Kalk und Kies dominierten Böden am Neusiedlersee zieht. Acht Monate lang in unterschiedlich großen Holzfässern ausgebaut, unfiltriert und ungeschwefelt bringt auch Winifred die gewisse Eigenheit mit, die die ganze Oggau-Familie auf sympathische Weise durchzieht. Hier ist niemand ein artifizielles Industrieprodukt. Was all diese Weine verbindet, ist ihre Nähe zur Natur, ihre ungezwungene Schönheit und ihr Charakter, der jeden Wein zu einem individuellen Begleiter macht. Winifred führt uns mit ihrem geringen Alkoholgehalt von 12% Vol. und der belebenden Säure als motivierende Erfrischung über die österreichische Grenze in ein kleines Dorf der alpinen deutschen Provinz: Trüberbrook.
Hier können Sie an PC, Xbox, PS4 oder Nintendo Switch den jungen US-amerikanischen Physik-Doktoranden Hans Tannhauser auf eine Reise in ein entlegenes Bergdorf der politisch äußerst angespannten 1960er Jahre begleiten. Um genau zu sein: Sie können ihn nicht nur begleiten, Sie müssen ihn steuern und mit ihm zusammen ein wunderbar abgedrehtes Alpen-Sci-Fi-Point-and-Klick-Adventure bestreiten. Von den Umschwüngen und Krisen in der Weltpolitik ist hier auf den ersten Blick überhaupt nichts zu merken. In der Heimatfilmidylle Trüberbrooks treffen Sie nicht nur auf zahlreiche Bewohner*innen, sondern erkunden eine wunderschöne, handgefertigte Kulisse, die sie jegliche Anstrengung ihres Bergurlaubs vergessen lassen. Mit der Zeit werden Sie allerdings merken, dass die mächtigen Machenschaften auch vor unbedeutend erscheinenden Alpenexklaven nicht Halt machen und finden sich schon bald in der aussichtslosen Lage wieder, die Rettung der uns bekannten Welt in Ihrer Hand zu wissen. Beeilen Sie sich! Auch wenn es hier sonst niemand zu tun scheint.
Das Videospiel, das die bildundtonfabrik unter Leitung des Entwicklers Florian Köhne den Spieler*innen Anfang 2019 zugänglich gemacht hat, schafft es ohne viel Mühe, alle, die einen Controller in die Hand gedrückt bekommen, in seinen Bann zu ziehen. Und wer wie ich keinen allzu großen Wert auf das schnelle Voranbringen der Storyline legt, sondern sich viel Zeit zum Erkunden und Interagieren mit den NPCs (Nicht-Spieler-Charaktere) lässt, wird einfach nicht genug kriegen können von dem kleinen Dörfchen im Nirgendwo. Jeder NPC ist mit so viel Liebe zum Detail und immer einer gehörigen Portion Augenzwinkern versehen, dass man sich wünscht, auch nach einem zehnminütigen Gespräch über absolut unwichtige Themen trotzdem weiter mit ihnen im Gespräch zu bleiben. Der einfühlsame und humorvolle Einsatz der Synchronsprecher*innen wie Nora Tschirner oder Jan Böhmermann tut sein Übriges dazu. Schade nur, dass der Urlaub, den Sie eigentlich nie wieder beenden wollen, mit knapp acht Stunden Spielzeit eher einem Kurztrip ähnelt. Bei all der Arbeit, die in dieses Projekt geflossen ist, sollten wir aber dankbar für jede Minute sein, die wir mit ihm verbringen dürfen. Dass Videospiele Kunst sind, hat die bildundtonfabrik mit Trüberbrook eindrucksvoll bewiesen.
In diesem Sinne: Zum Wohl, Berg heil, viel Erfolg beim Weltenretten und Kraxeln. Kommen Sie mir ja wieder heile herunter!
Ihr
Nick Pulina
PS: „Ich wander’ aus, ich wander’ aus. Sagte die Wanderratte, als sie nichts mehr zu wandern hatte.“
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