Christian Kracht nimmt den Leser in Der gelbe Bleistift mit auf eine Reise durch das Asien der späten Neunziger. In fast 20 Reiseberichten, die als Kolumne in der „Welt am Sonntag“ erschienen sind, bahnt er sich seinen Weg von Baku bis nach Tokio durch den bevölkerungsreichsten Kontinent. Die abwechslungsreichen Begegnungen mit den Menschen und Kulturen überraschen ihn immer wieder. Ob strenge Malaien, pakistanische Waffenhändler oder Hippies im indischen Goa – seine Reise ist lesenswerter denn je.
von JAN-NIKLAS DALLEY
Der gelbe Bleistift startet seine Reise im westlichsten Teil Asiens: In Baku, Hauptstadt Aserbaidschans. Das Land erlangte durch das „schwarze Gold“ einen hohen Wohlstand. Dass in der Stadt allein das Erdöl im Mittepunkt steht, erkennt Christian Kracht besonders an den zahlreichen Tankstellen, die sich am Straßenrand in kurzen Abständen aneinanderreihen. Doch obwohl das Land eigentlich nicht nur im Öl, sondern auch im Geld schwimmen könnte, spiegelt sich der dazugewonnene Wohlstand nicht im Stadtbild Bakus beziehungsweise im Leben der Einwohner wider. Ausrangierte Busse aus Deutschland oder andere Überbleibsel aus der Zeit der Sowjetunion zeigen dem Leser, dass an der monokapitalistischen Wirtschaft des Landes nur ein kleiner Kreis profitiert. Auch wenn es zunächst den Anschein macht, dass die Orte allein für den Kolumnisten keinen Mehrwert bieten, sind es doch auch immer wieder die Begegnungen mit Einheimischen oder anderen Reisenden, die seine Berichte lesenswert machen. Sei es ein Deutsch sprechender Auswanderer, der ihn durch die aserbaidschanische Hauptstadt führt oder ein Pakistani, der ihm einen Crash-Kurs im Umgang mit Kalaschnikow und Panzerfaust gibt: Die bildreiche Sprache der einzelnen Kolumnen lässt den Leser in jedes seiner Erlebnisse eintauchen.
Kracht bleibt schonungslos ehrlich
Auch wenn viele Erlebnisse positiv sind, nimmt der Autor bei negativen Erfahrungen nie ein Blatt vor den Mund. Sein Aufenthalt in Singapur macht dies besonders deutlich. An der Stadt, in der keine Meinungsfreiheit herrscht und die durch ein hartes Justizsystem kontrolliert wird, lässt der Kolumnist kein einziges gutes Haar. Wenn man gegen geltende Gesetze verstößt, wird häufig die Prügelstrafe verhängt. Buße in Form von roher Gewalt – das entspricht keineswegs dem europäischen Justizverständnis. Rigoroses Durchgreifen beim kleinsten Vergehen in einer modernen Stadt, die aussieht wie die deutsche Bankenmetropole in Frankfurt. Dass Singapur auch nicht mit westlichen Standards der Meinungsäußerung mithalten kann, wird besonders am Ende seines Aufenthalts deutlich. Nachdem seine Kolumne über die Stadt in der „Welt am Sonntag“ veröffentlicht wurde, erhielt der Autor für den ehrlichen Text prompt ein fünfjähriges Einreiseverbot. Außerdem wurde die „Welt am Sonntag“ – nachdem der Reisebericht über „die schrecklichste Stadt“ erschien – unter anderem für zwei Jahre von Singapore Airlines aus dem Zeitschriftenangebot verbannt. Einige von dort verschickte Postkarten des Autors, welche mit einer politischen Botschaft versehen waren („Der Erhalt dieser Ansichtskarte ist ein Beweis für die Demokratie.“) kamen ebenso nie an. Solche Erlebnisse führen dem Leser stets vor Augen, welches Privileg die Werte- und Rechtsstandards der westlichen Welt darstellen.
Im indischen Goa beobachtet der Asientourist außerdem zahlreiche europäische Aussteiger, die es sich an den Stränden gemütlich machen. Für ihn bieten sie keinen Mehrwert im Gegensatz zu Touristen, die an den Urlaubsorten häufig viel Geld lassen und so die lokale Wirtschaft unterstützen. Bettelnde nackte Hippies sind ihm – wie im Übrigen dem indischen Staat – ein Dorn im Auge, da ihm der Ort ohne die unerwünschten Gäste sehr gut gefällt.
Auch nach über 20 Jahren noch voller Mehrwert
In einem Vierteljahrhundert kann viel passieren, deshalb stellt sich die Frage, was ein Leser noch heute mit einem Reisebericht aus dem vergangenen Jahrhundert anfangen soll. Schließlich sind die einzelnen Beiträge alle ein paar Jahre vor der Jahrtausendwende entstanden und stellen dementsprechend eine Momentaufnahme dar. Wer sich nun selbst auf die Reise begibt, kann sich an Krachts Erfahrungen und Erlebnisse zurückerinnern. Zwar sind diese für den Reisenden wohl nicht so aufschlussreich wie die Hinweise und Tipps eines aktuellen Reiseführers, aber das ist auch gar nicht die Intention. Stattdessen kann der Leser anhand seiner eigenen Erfahrungen erkennen, ob oder wie sich ein Land in den vergangenen Jahren verändert hat und ob es noch auf die vorangegangenen Beschreibungen des Kolumnisten passt. In Bezug auf Veränderungen wird dieser Aspekt aus gegebenem Anlass in zwei Kapiteln seines Buches besonders deutlich: Die Momentaufnahme Hong Kongs ist angesichts der vergangenen gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Studenten und der von China gesteuerten Exekutive wichtiger denn je. Kracht besuchte die Sonderverwaltungszone ein Jahr vor der Übergabe an die Volksrepublik, welche die Metropole inzwischen restriktiv kontrolliert und großen Einfluss auf den Alltag der dort lebenden Menschen nimmt.
Auch dem heutigen Myanmar stattete er in den Neunzigern einen Besuch ab. Damals machte er schon auf die missliche wirtschaftliche und politische Lage aufmerksam. Touristengruppen, die damals in Scharen durch das Land zogen, sucht man in dem Land inzwischen vergeblich. Nach dem jüngsten Militärputsch ist diese Veränderung nur wenig verwunderlich.
Christian Kracht: Der gelbe Bleistift
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 221 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-596-18531-3