Selbstfindung mit Ich, Iech und Momoko

Chisako Wakatake: Jeder geht für sich allein; cass verlag

Chisako Wakatakes Jeder geht für sich allein ist ein Roman, der seinen Leser:innen in den Lebensabend der Japanerin Momoko mitnimmt. Dabei wird nicht nur Momokos Leben immer wieder mit Dialekthumor und entwaffnender Direktheit herausgefordert, sondern führt auch dazu das eigene Lebensbild in Frage zu stellen, dabei es jedoch nicht versäumt, Hoffnung in der Dunkelheit finden zu lassen.

von MEIKE WINKLER

Die bergige Präfektur Iwate im Nordosten von Japan. Sowohl Protagonistin wie Autorin nennen diese ländliche Region fern der Industrialisierung ihre Heimat. Gemeinsamkeiten von Figur und Autorin überlappen sich beständig, so dass nicht immer durchschaubar ist, was Fiktion ist und was auf Realität beruht. So entflieht auch Momoko in jungen Jahren ihrem Dasein auf dem Land in dem Bestreben, selbstbestimmt und frei von alten Traditionen zu leben. Dennoch heiratet sie in der großen Stadt einen Mann, der aus ihrer Heimatregion kommt. Lang bleibt ihr das gemeinsame Leben jedoch nicht erhalten, denn ihr Mann stirbt früh, sodass Momoko sich allein um die beiden Kinder kümmern muss. Zu Beginn des Romans ist sie 74 Jahre alt, die Kinder sind ausgezogen und Momoko beginnt ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu reflektieren – ähnlich mag es Wakatake nach dem Tod ihres Mannes ergangen sein.

Iech bie du, unn du bisd iech

Die Gespräche, die Momoko dabei führt, finden auditoriumsgleich in ihrem Kopf statt. Zu Wort kommt eine Vielzahl an Stimmen, welche sie nicht immer zuordnen kann. So klingt eine etwa wie ihr verstorbener Mann, eine zweite wie ihre Großmutter, die sie aufgezogen hat und andere wie Versionen ihres jüngeren Selbst. Vielen ist dabei der Dialekt aus Momokos Heimat, Tōno, eigen, der im Deutschen durch einen Dialekt des Erzgebirges übersetzt wird. Wie im japanischen Original sind diese Stellen nicht immer einfach zu verstehen, doch der Leseaufwand lohnt sich. Der Dialekt zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und eröffnet dem Leser erst ein tieferes Verständnis für Momokos vielschichtige Identität.

So dient der Dialekt als Symbol für die Abstraktion von sich selbst in der Kindheit, welche Momoko dadurch erfährt, dass sie ihr bislang identitäres und geschlechtsneutrale Iech (im jap. ora) durch ein anderes weibliches Ich (im jap. watashi) ersetzen soll und affektiert in ihren Ohren klingt. Weiterhin wird er für die gewollte Distanzierung zu Heimat und Tradition als junge Erwachsene verwendet, die Rückkehr zur Tradition durch die Ehe und ihre Rolle darin, sowie zur Rückbesinnung auf sich selbst.

Iech als Kritiker und Wahrheitssucher

Damit hat der Dialekt seine Funktionsvielfalt jedoch noch nicht ausgeschöpft. Häufig sind es die Dialektstimmen in Momokos Kopf, die es wagen, Gegebenes in Frage zu stellen, manchmal frei heraus unangenehme Wahrheiten kundzutun und insgesamt in einer direkten Art zu sprechen. Die Differenz zur Hochsprache, die Momoko selbst verwendet, spiegelt auf eingängige Weise die für westliche Länder zuweilen streng wirkende Förmlichkeit in der japanischen Kultur wider, in der man sich selbst in der Regel zurücknimmt und sich selten direkt oder gar negativ äußert. „Die Tränen habe ich unbewusst vergossen, über die Leere meines verbliebenen Seins. Wos iss dess dee for e oogehuums Dseich? Redd su, ass mor diech vorrschdedd.“

Polyphoner Motivationsratgeber

So bringen die Stimmen in Momoko sie dazu, sich ihre Einsamkeit einzugestehen, ihre aufopfernde Liebe zu ihrem Mann als eine schöne Zeit wertzuschätzen. Sein Gehen wird zur Chance, um nun wirklich selbst den Kurs ihres Lebens zu bestimmen. Sie beginnt, kritische Schlüsselelemente ihres bisherigen Lebens zu betrachten und realisiert dabei, wie sehr ihre Kindheit ihr weiteres Leben geprägt hat und sich dadurch auch auf ihre Beziehung mit ihren Kindern ausgewirkt hat. Ihr Blick rückt schließlich ihre unmittelbare Zukunft in den Fokus ihres lauten Auditoriums. Sie beschreibt das Altern und den beängstigenden Prozess, wie er viel zu oft wie ein unheilvoller Vorbote über ihr schwebt. Es gibt Stimmen, die mit all den Rückschlägen, den harten Zeiten und der Trauer ihre Unlust auf das Leben verlauten lassen, jedoch findet Momoko immer wieder kleine Stimmen, die ihr klar machen, dass sie trotz allem noch nicht bereit ist, diese Welt zu verlassen. Zwar findet sie diese auch in sich selbst, jedoch ist die wichtigste davon ist ihre Enkelin: „‚Oma, mit wem redest du da?‘ ‚Na so was, Saya-chan!‘“   

Wie schon Isabella Arcucci bemerkte, ist Jeder geht für sich allein nicht nur ein lesenswerter Roman, sondern auch eine Art Lebenshilfebuch. Jedoch keines, das seinen Leser:innen ins Ohr säuselt: Alles wird gut! Es rüttelt auf, schreit förmlich danach, das Leben, Älterwerden und Sterben aus einer anderen Perspektive zu betrachten und für sich neu zu definieren. Es braucht keine Neujahrsvorsätze, um etwas in Bewegung zu bringen. Manchmal tut es auch einfach eine packende Geschichte.

Chisako Wakatake: Jeder geht für sich allein
Cass Verlag, 109 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-94475-125-2

Kommentar verfassen