Macht das Mitgefühl beim Dorf-Nazi Halt?

Juli Zeh: Über Menschen; Cover: Luchterhand

Juli Zehs Roman Über Menschen erzählt von Dora, einer Werbetexterin aus Berlin. Dora lotet in Bracken, einem fiktiven Ort in der brandenburgischen Prignitz, ihre physischen und emotionalen Grenzen aus. Sie kauft dort ein Gutsverwalterhaus und lässt Freund und Corona in Berlin zurück. Dort wird sie durch ihren Nachbarn Gote, dem Dorf-Nazi, auf Herz und Vorurteile geprüft. Das Werk hinterfragt den Rassismus eines jeden, pulverisiert Klischees sowie eigene Vorurteile und macht einem die eigene Handlungsfreiheit bewusst.

von LISA THEISSEN

Die Juristin, Richterin und Autorin Juli Zeh, die einen Abschluss des Literaturinstituts Leipzig hat, lässt hier ihre ungeheure Fülle an Verstand und Fantasie in einen spannenden, berührenden Roman einfließen. Zeh hält immer die Lupe auf die großen Kontroversen der Gesellschaft, die den Leser vor höchst moralische Fragen stellen, welche einen noch tagelang nach der letzten Seite beschäftigen. Ob es ihr Roman Spieltrieb, die Dystopie Corpus Delicti oder das neueste Werk Über Menschen sind: Am Ende ist man emotional und charakterlich verändert. Über Menschen hält einem den Spiegel vor und hinterfragt den eigenen alltäglichen Rassismus und persönliche Werturteile durch die starke Identifikation mit der Protagonistin Dora. Das Vehikel zwischen Leser und Buch sind die eindringlich wirkenden inneren Dialoge, die Dora mit sich selbst führt und die den Leser tief eintauchen lassen in sein eigenes Selbst.

Dora kommt nach Bracken, um Berlin zu entfliehen. Sie verlässt ihren Freund Robert, der sie in eine moralische Tyrannei gedrängt hat. Die beiden haben sich über die in den 80 Quadratmetern ihrer Berliner Altbauwohnung ständig präsenten Greta Thunberg, die Robert sehr bewundert, und die Coronazeit stark auseinandergelebt. Dora will Roberts ideologischen Gedanken und die daraus resultierenden manischen Auseinandersetzungen mit ihm entfliehen und der durchgestylten, hippen Gesellschaft der Berliner Jungfamilien entkommen. Sie ist kinderlos, talentiert in ihrem Job und mütend über die sich immer enger ziehenden Kreise der alternativlos erscheinenden Meinungen ihres Umfelds. Von ihrem Umzug erzählt sie nicht mal ihrem Bruder Axel oder ihrem Vater Jojo etwas.

Dora bricht aus

„Dora mag keine absoluten Wahrheiten und keine Autoritäten, die sich darauf stützen. In ihr wohnt etwas, das sich sträubt.“ Nach der Flucht vor Robert, dem „Besessenen“, trifft Dora ironischerweise in Bracken nun an ihrer Grundstücksmauer auf Gote, der sich selbst den Titel des Dorf-Nazis verliehen hat. Er hat vor Jahren mit anderen Nazikumpels zusammen ein Pärchen bei einer Kundgebung mit einem Messer verletzt und wurde dafür rechtskräftig wegen versuchten Totschlags verurteilt, ist aber inzwischen wieder aus der Haft entlassen. Gote und das Dorf Bracken mit seinen Bewohnern ändern Doras Lebensparameter, indem sie anders leben und handeln, als sie das aus der Großstadt Berlin gewöhnt ist. Der Nazi Gote beschenkt Dora ungefragt mit selbst zusammengeschraubten Stühlen für ihre noch fast nicht existente Küche und baut ihr aus Paletten eine Auflage für ihre Matratze, die bisher auf dem blanken Boden liegen musste. Dora ist fluchtartig ohne viel persönliche Habe umgezogen. Selbst ihr wertvollster Besitz, ein Fahrrad namens „Gustav“, ist bei Robert in Berlin geblieben. Sie trifft in Bracken nach und nach auf ihre Nachbarn. Dora, die die Begegnungen erschüttern und irritieren, flieht mit ihrer Hündin Jochen in den Wald. Dort trifft sie auf ein kleines Mädchen namens Franzi. Dieses verwahrlost wirkende Kind freundet sich mit der Hündin an und weicht Dora nun nicht mehr von der Seite.

Dora erlebt einen inneren Konflikt angesichts der Distanzlosigkeit der Menschen, auf die sie in Bracken trifft. Es ist so ganz anders, als sie es aus der anonymen Großstadt gewohnt ist. Diese Gemeinschaft der Dörfler, diese langsame Infrastruktur des brandenburgischen Landes und die Hilfsbereitschaft und raue Freundlichkeit beruhigen Dora zusehends, die bis dato in einer nervösen Aufgeregtheit verblieben ist. Sie verliert mit der Zeit den Zwang des Gedankenkreiselns und findet sich entspannt in das Alltagsleben des Dorfes ein. Sie tut es den Nachbarn gleich und macht, was man mit einem Gutsverwalterhaus und einem Garten in der Prignitz so macht. Sie gärtnert, streicht mithilfe von Gote und den Nachbarn mit frischer Farbe das Haus und geht im Homeoffice ihrem Job nach. So weit, so schön. Aber es wäre kein Roman von Juli Zeh, wenn darauf nicht noch eine Pointe folgen würde, welche die bisher eher lose entstandenen Beziehungen der Figuren Dora, Gote und Franzi auf die Probe stellt.

Appell an die Menschlichkeit und Handlungsfreiheit des Lesers

Der Roman, unterteilt in 50 nur wenige Seiten umfassende Kapitel, die schnelle Szenenwechsel in der Erzählung konstruieren, hält durch die ständig präsente Innensicht der Ich-Erzählerin Dora die Spannung auf einem sehr hohen Niveau und zwingt dem Leser förmlich auf, sich mit der Protagonistin Dora zu identifizieren. Der Leser schlüpft in Doras Rolle und stellt sich parallel zur Hauptfigur Fragen wie: „Wie viel Abstand braucht eine Linksliberale zum nächsten Neonazi, um in Frieden leben zu können?“ Nicht nur die Juristin Zeh zeigt hier, wie wichtig und elementar es ist, genau hinzuschauen – zum Beispiel, als Gote von Dora an einem Punkt der Geschichte genau nach dem Tathergang seines begangenen Verbrechens befragt wird und seine Schuld als Täter nach seiner Schilderung plötzlich zweifelhaft erscheint. Auch der Mensch Juli Zeh konstruiert hier eine Geschichte, die den Leser zum Nachdenken bringt und ihn auf höchst emotionaler Ebene zwingt, über die eigenen Werte und Vorstellungen nachzudenken und Doras Fragen für sich selbst zu beantworten. Denn man hat immer eine Wahl. Wäre man bereit, wie Dora zu handeln?

Juli Zeh: Über Menschen

Luchterhand Literaturverlag, 412 Seiten

Preis: 22,00 Euro

ISBN: 978-3630876672

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