In seinem 2010 erschienenen Roman Nemesis zeigt Philip Roth den Lesenden auf, wie Schuldgefühle und ein übersteigertes Verantwortungsbewusstsein einen Menschen brechen können. Bei dem Roman handelt es sich um den dritten und letzten Teil der Trilogie mit dem unheilvollen Namen Nemeses – der Pluralform der griechischen Rachegöttin Nemesis. In gewohnt düsterem Schreibstil geht Roth diesmal ins Gericht mit Gott. So scheint es zumindest zunächst…
von ISABEL MANTHE
Im Sommer 1944 bricht in Newark eine Polio-Epidemie aus. Der 23-jährige Sportlehrer Bucky Cantor – ein durch und durch rechtschaffener und zuverlässiger junger Mann – übernimmt an den Nachmittagen die Aufsicht auf dem Sportplatz im jüdisch geprägten Viertel Weequahic. Seine beiden besten Freunde dienen währenddessen beim Militär mitten im zweiten Weltkrieg. Eigentlich auch Buckys Ziel im Leben, der aber aufgrund seiner geringen Körpergröße und einer ausgeprägten Kurzsichtigkeit ausgemustert wird. Was er noch nicht weiß: Auch er wird sich noch in einem gnadenlosen Krieg wiederfinden, denn die Polio-Epidemie fordert schon bald ihre ersten Opfer. Ab diesem Zeitpunkt verschreibt Bucky sich ganz den Aufgaben als Sportlehrer. Somit wird unser Titelheld zu einem der „sehr wenigen jungen Männer in unserem Viertel, die nicht in den Krieg gezogen sind“.
Von italienischen Halbstarken und anderen Sündenböcken
Die Fälle der Infektionen in der Stadt häufen sich. Vornehmlich befallen die Polioviren die Kinder und Jugendlichen. Dennoch sollen sich diese weiter die Nachmittage auf dem Sportplatz mit Ballsportarten vertreiben können. Bucky Cantor – den die Kinder aufgrund seiner sportlichen Höchstleistungen – als eine Art Helden feiern, empfindet es als seine Pflicht, sie bestmöglich zu behüten und von allem drohenden Unheil zu bewahren.
Die Krankheitsfälle nehmen rapide zu und die ersten zwei Jungen sterben. Ein Sündenbock muss her. Infrage kommen eine Handvoll italienischer Halbstarker, die ihr Gepöbel gegen die spielenden Kinder mit Spuckattacken auf den Boden krönen. Natürlich kann unser Titelheld die Situation friedlich auflösen und wird einmal mehr zu einem heroischen Vorbild für die Kinder. Was aber bleibt, ist der Verdacht, die Fälle könnten sich durch die Körperflüssigkeiten der italienischen Jungen noch mehr häufen. Auch der geistig behinderte Horace gerät in den Fokus der Verdächtigungen: Er möchte zu den sportlichen Jugendlichen gehören und verteilt regelmäßig „Hive-Fives“ auf dem Sportplatz. Die Kinder aber finden ihn schmutzig und ekeln sich geradezu vor ihm. Szenarien, die man inmitten einer Coronapandemie auch zahlreich vorfindet und mit denen man sich nun auseinandersetzen muss. Mit Blick auf die derzeitige Lage schaudert es einen beinahe, wie viele Parallelen zu finden sind: die Suche nach potenziellen Sündenböcken, diverse Schutzmaßnahmen, zum Teil irrationale Ängste vor Körperflüssigkeiten der Mitmenschen und Stigmatisierung einzelner Bevölkerungsgruppen. Wer hätte in den 1940er Jahren geahnt, dass wir auch im Jahr 2021 noch nicht dazu gelernt haben. Der Mensch ist nun einmal ein Gewohnheitstier.
Auf die Beschuldigten zurückführen lässt sich allerdings keiner der Fälle. Im Gegensatz zur aktuellen Pandemie bleibt hier nur ein weiterer Verdächtiger: Gott. Er wird es wohl sein, der diesen „Krieg“ gegen die Kinder und Jugendlichen führt.
Wenn das Paradies zum Fegefeuer wird
Die finanziell besser gestellten Bürger:innen flüchten aufs Land. So auch Buckys Freundin Marcia Steinberg, die als Aufsichtsperson in einem Ferienlager in den Bergen arbeitet und ihren Freund besorgt anfleht, zu ihr zu kommen. Aber Bucky Cantor wäre nicht der Mann, der er ist, wenn er – ohne mit sich und seinem Verständnis von Pflichtbewusstsein zu hadern – alles stehen und liegen lassen würde, um zu seiner Herzensdame zu fahren. Letztendlich überzeugt ihn aber die Tatsache, dass sich die Vorwürfe der Eltern der verstorbenen Jungen allmählich gegen ihn richten, doch in die Poconos zu Marcia aufzubrechen. Ein paar Tage scheint der grausame Alptraum vergessen. Er verlobt sich sogar mit seiner großen Liebe.
Die Kinder finden auch hier Gefallen an Bucky und er widmet sich mit Begeisterung der Aufsicht über die Turmspringer.
Das Unausweichliche geschieht: Im Camp gibt es den ersten Fall von Polio. Der Erkrankte ist ausgerechnet ein Junge, dem Bucky stundenlang Hilfestellungen beim Turmspringen gegeben hat. Man mag nur erahnen, welcher Übeltäter die Seuche in dieses vermeintlich sichere Idyll eingeschleppt hat – es ist der Titelheld selbst. Das Ferienlager wird geschlossen, zahlreiche Kinder erkranken, versterben und wir erfahren, dass Bucky – von Marcia getrennt – monatelang in einem Krankenhaus fernab von Newark mit den Folgen seiner Erkrankung kämpft. Sein weiteres Leben verbringt er nunmehr allein im Rollstuhl. Seine Verlobte lässt er nicht mehr an sich heran, ist er es doch, der so viel Unheil über die Kinder im sicheren Ferienlager gebracht hat. Er, der sich selbst die Verantwortung für die Kinder aufgetragen hat, trägt die Schuld. Die Schuld am Tod zahlreicher Kinder, die er angesteckt hat.
Was am Ende bleibt
Auch wenn wir Menschen dazu neigen, am Ende doch noch etwas Gutes in tragischen Schicksalen zu sehen: Bucky Cantor ist ein verbitterter Mensch geworden, der jegliche Freude am Leben unwiderruflich verloren hat und seelisch schwer gezeichnet ist. Was ihm bleibt sind nur die Schuldgefühle, dass ausgerechnet er überlebt hat und die Erkenntnis, dass die Gerechtigkeit ihren Weg nicht gefunden hat. Eine Frage bleibt: Wer ist nun Buckys Nemesis? Vielleicht die Polioviren. Vielleicht Gott, der jene Viren vermeintlich erschaffen hat und zulässt, dass sie Kinder befallen und diese qualvoll sterben lassen oder dauerhaft zu Pflegefällen machen. Vermutlich ist er es aber letztendlich selbst.
Am Ende sind wir schließlich alle beim Blick in den Spiegel schon einmal unserer Nemesis begegnet – vielleicht ja sogar innerhalb der Coronapandemie. Insbesondere in diesen Zeiten ist dieser hochdramatische und packende Roman es allemal wert, ihn unter erweiterten Gesichtspunkten noch einmal zu beleuchten und zu reflektieren. Vielleicht wird man sich und seine Einstellung zum aktuellen Geschehen ja an der ein oder anderen Stelle wiedererkennen und überdenken. Philip Roth hätte vermutlich nicht gedacht, dass die Geschichte von Bucky Cantor noch einmal von so einer Brisanz und Aktualität sein wird.
Philip Roth: Nemesis. Aus dem Englischen von Dirk von Gunsteren
Carl Hanser, 222 Seiten
Preis: 18,90 Euro
ISBN: 978-3446236424