Der Förderpreis Ruhr geht an… Esra Canpalat! – “Ich schreibe, weil ich nicht anders kann.”

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Die Preisträgerin, Esra Canpalat Bildrechte: Laila Schubert

Esra Canpalat war lange Jahre Redaktionsmitglied bei literaturundfeuilleton. Nun erhielt sie den mit 5.000 Euro dotierten Förderpreis Ruhr 2021 für ihren Text Wahlrosshaut. In diesem Zuge freuen wir uns, dass sie sich Zeit genommen hat, diesem Medium, auf dem sie früher selbst veröffentlicht hat, ein Interview zu geben. Darin spricht sie darüber, was sie bewogen hat, ihren Sieger-Text zu verfassen, sie thematisiert Diversität im Literaturbetrieb, die Bedeutung des Schreibens für sie selbst und was sich in der universitären Wissenschaft ändern sollte.

von ALINA WOLSKI

Liebe Esra, erst einmal herzlichen Glückwunsch im Namen der gesamten
Redaktion zum Förderpreis des Literaturpreis Ruhr 2021!

Wenn du deinen Siegertext in drei Sätzen zusammenfassen solltest, wie
lauteten diese?

In meinem Text geht es um die Undurchdringlichkeit von Menschen und die Unüberwindbarkeit von Barrieren innerhalb menschlicher Beziehungen, ganz besonders innerhalb familiärer Beziehungen. Es geht um Themen wie Vergänglichkeit, Erinnerung und Trauerarbeit. Und es geht auch darum, Lücken und Leerstellen zuzulassen, zu verstehen, dass auch diese bedeutungsvoll und vielsagend sein können.


Was hat dich dazu bewegt, Walrosshaut zu schreiben?

Ein Freund hatte mich auf die Ausschreibung des [kon] Papers hingewiesen, einem Magazin für Literatur und Kultur, das von Literaturwissenschaftler*innen aus München und Berlin herausgegeben wird. Das Thema der siebten Ausgabe war „Haut“. Ich fand die Idee spannend, ausgehend von der sehr robusten, dicken Haut von Walrossen über ein schwieriges Vater-Kind-Verhältnis zu sprechen. Erinnerungen, Schmerzen, Traumata schreiben sich ja nicht nur in unsere Gedanken, unsere Psyche ein, sondern auch in unsere Körper. Ich finde es interessant, dass über die Haut, die ja auch das größte Organ des Menschen ist, Emotionales zum Ausdruck gebracht werden kann. Es gibt aber auch leider solche Redewendung wie: „Du musst dir eine dicke Haut zulegen“. Oder: „Du bist zu dünnhäutig.“ Ich finde diese Redewendungen problematisch, weil sie suggerieren, dass wir abgehärtet sein müssen, um zu überleben, dass wir unsere weichen Seiten nicht zeigen und nicht ausleben sollen. Genau das verhindert aber, dass die Erzählerin eine enge Beziehung zum Vater aufbauen kann. Gleichzeitig ist es aber diese dicke Haut, die Walrosshaut, die nicht nur der Vater, sondern auch die Tochter hat, die die Beziehung der beiden zusammenhält. Selbst die Undurchdringlichkeit der Haut kann zu einer Spur werden.


Was bedeutet diese Auszeichnung für dich?

Ich kann gar nicht beschreiben, wie viel mir diese Auszeichnung bedeutet. Es ist das erste Mal, dass mein literarisches Schreiben gewürdigt wird. Aus so vielen Einsendungen von einer so versierten Jury ausgewählt zu werden ist ein unglaublich bestärkendes Gefühl. Ich empfinde diese Auszeichnung als motivierenden Schubser trotz der Schwierigkeiten und der prekären Situation, in die man* zwangsläufig als schreibende Person gerät, meinen Weg weiterzugehen.


Du warst selbst lange Jahre Redaktionsmitglied bei literaturundfeuilleton. Inwiefern hat dich die Arbeit für den Blog beeinflusst?

Mich hat eigentlich jegliche Art des Schreibens beeinflusst, auch das wissenschaftliche Schreiben an der Universität. Was ich an der Arbeit bei literaturundfeuilleton so schön fand war, einen Einblick in die aktuelle Literaturlandschaft zu bekommen und sich mit Literaturkritik am Diskurs zu beteiligen. Das beeinflusst natürlich auch das eigene literarische Schreiben. Ich merke aber erst jetzt, was mir während meiner Zeit als Redakteurin echt gefehlt hat, nämlich (post)migrantische und queerfeministische Perspektiven und Geschichten von BPoC. Damit will ich keineswegs sagen, dass es diese vorher nicht gab oder dass diese auf dem Blog nicht besprochen worden sind. Aber ich habe erst seit einigen Jahren das Gefühl, dass ich endlich Romane und Texte lese, die mich wirklich ansprechen und mich betreffen, beispielsweise Fatma Aydemirs Ellbogen. Nach der Lektüre habe ich gedacht: „Wo warst du all die Jahre? Ich habe dich so sehr gebraucht und es überhaupt nicht gewusst!“


Wie bist du zum Schreiben gekommen und welche Bedeutung hat das Schreiben für dich?

Ich schreibe seitdem ich schreiben kann. Wenn ich gefragt werde, warum ich schreibe oder wie es dazu kam, kann ich als Antwort immer nur zurückgeben: Weil ich nicht anders kann. Es gab auch Phasen, in denen ich gar nicht oder nicht viel geschrieben habe. Aber zwangsläufig greife ich irgendwann immer zum Stift oder haue auf die Tasten, weil ich wie gesagt nicht anders kann. Schreiben heißt für mich auch immer, sich zu widersetzen. Zum Beispiel, sich einer Herrschaftssprache zu widersetzen. Für mich, die auf verschiedenen Ebenen Diskriminierung erfährt, ist Schreiben manchmal der einzige Ausweg, mich selbst zu ermächtigen. Mir fällt es vielfach einfacher, meine Gedanken in Schrift festzuhalten, weil mir vielerorts der Raum zum Sprechen verwehrt wird. Ich merke ganz oft, wie mich Sprechsituationen immer in Panik versetzen, weil ich denke, ich müsse schnell auf den Punkt kommen. Wenn dir ständig das Wort abgeschnitten wird oder dir suggeriert wird, dass deine Perspektive nicht gewürdigt wird, dann sprichst du auch schnell, unzusammenhängend und fragmentarisch, aus Angst, dass dir jeden Moment das Wort genommen wird, und aus dem Gefühl heraus, du könntest die Zeit der anderen stehlen, weil du dich ohnehin in einem Raum bewegst, in dem du nach Ansicht vieler der Anwesenden nichts zu suchen hast. Beim Schreiben ist das anders, da schaffe ich mir meinen eigenen Raum, der nach meinem eigenen Zeitverständnis funktioniert. Wer sich dann die Zeit nimmt und liest, was ich geschrieben habe, das steht noch einmal auf einem anderen Blatt. Diese Fragen schlagen aber in dieselbe Kerbe wie die, die in Sprechsituationen entstehen: Wer darf sprechen/schreiben, wem wird überhaupt zugehört/wer wird gelesen? Gerade im Hinblick auf den doch sehr weiß und männlich geprägten Literaturbetrieb sind das sehr virulente Fragen für mich. Deshalb ist Schreiben auch nicht einfach, Schreiben ist sehr schmerzhaft. Ich glaube, viele romantisieren Schreibszenen oder Schreibprozesse von Autor*innen. Schreiben ist nichts Glamouröses für mich. Schreiben ist oftmals eine elendige Arbeit und immer eine prekäre Arbeit, ganz gleich, ob es wissenschaftliches oder literarisches Schreiben ist. Gleichzeitig ist Schreiben auch nichts Bohémehaftes für mich. Teil einer unkonventionellen Subkultur zu sein können sich auch oftmals nur Menschen leisten, die aus einem bürgerlichen Milieu kommen.


Hast du ein literarisches Vorbild?

Ich tue mich immer schwer mit dem Begriff „Vorbild“, weil das für mich immer nach Glorifizierung oder Personenkult klingt. Ich möchte auch niemandes Vorbild sein, sondern vielleicht eher inspirieren oder bestärken. Wessen Texte mich bestärken und sehr berühren sind aktuell die von Karosh Taha. Ich mag die Gleichzeitigkeit von zarter und messerscharfer Sprache und Beobachtung. Das schätze ich sehr an ihren literarischen, aber auch essayistischen Texten. Und ich liebe die Essays von Joan Didion, weil sie so nüchtern und pointiert geschrieben sind, diese sehr zurückgenommene Sprache aber nie eine unmenschliche ist.


Neben dem Schreiben promovierst du. Wo siehst du dich in der Zukunft? Als Wissenschaftlerin? Als Schriftstellerin? Möchtest du beides vereinen? Oder etwas ganz Anderes machen?

Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung, wie es jetzt weitergeht. Ich denke, ich werde mich jetzt ein wenig treiben lassen, aber auch gezielt schauen, was sich für mich an Möglichkeiten ergeben werden. Meine Zukunft sehe ich nicht in der Wissenschaft. Dafür müsste sich strukturell in der Akademie mehr ändern. Ich sehe da auf jeden Fall auch positive Entwicklungen, beispielsweise im Zuge von #IchbinHanna. Und viele meiner Kolleg*innen bemühen sich um Veränderung in der Lehre und um Chancengleichheit. Aber der Wissenschaftsbetrieb ist noch weit davon entfernt, divers zu sein. Genauso wie der Literaturbetrieb. Für mich persönlich sind das Schreiben von wissenschaftlichen Arbeiten und das literarische Schreiben nicht unbedingt zwei grundverschiedene Kategorien. Ich merke immer wieder, wie sehr meine wissenschaftliche Recherchearbeit auch mein kreatives Schreiben beeinflusst. Und es ist mir auch ein Anliegen, wissenschaftliche Texte nicht in einer drögen Wissenschaftssprache zu verfassen. Auf mehr Texte von mir könnt ihr auf jeden Fall gespannt sein, denn wie ich ja bereits gesagt habe: Ich kann nicht anders.


Vielen Dank für diese persönlichen Einblicke und weiterhin viel Erfolg bei allen deinen Vorhaben!

Hier mehr zum Förderpreis Ruhr 2021 und zu Esra Canpalat.

Esra Canpalat: Walrosshaut
Erschienen im November 2020 im Magazin „[Kon] Paper. Magazin für Literatur und Kultur, No. 7 Haut“
Preis: 4,70 Euro

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