Künstliche Intelligenz, ein sterbendes Kind und ganz viele Gefühle

Kazuo Ishiguro: Klara and the Sun; Cover: Faber Press

Zu Jahresende hat sich die Tradition etabliert, dass Weltveränderer, Politiker, Entrepreneure und Influencer (diese Liste lässt sich beliebig erweitern) ihre Leseempfehlungen des vergangenen Jahres kundtun. Auffällig häufig wurde Klara and the Sun von Kazuo Ishiguro dieses Jahr genannt. So steht dieser Science Fiction-Roman des Nobelpreisträgers über künstliche Intelligenz nicht nur auf den Leselisten von Barack Obama und des Time Magazine. Gerade weil Ishiguro sich an ein innovatives Thema heranwagt, hätte er das Potential in der Geschichte jedoch stärker entfalten können.

von ALINA WOLSKI

Welches Kind wünscht sich nicht, immer einen Freund bei sich zu haben, der es aufmuntert, unterhält, ihm im Alltag hilft? Das dachte sich wohl Kazuo Ishiguro als er seinen Roman schrieb. In seiner Science-Fiction-Vision wird dieser Wunsch in Zukunft von Robotern ausgestattet mit künstlicher Intelligenz erfüllt – für diejenigen Kinder, deren Eltern das nötige Kleingeld haben, versteht sich natürlich. Von Anfang an gelingt es dem Schriftsteller, durch die Wahl der Erzählperspektive zu fesseln. Klara berichtet aus ihrem Leben. Klara, das ist eben eine dieser künstlichen Intelligenzen.

Das erste Mal tritt sie in das Rampenlicht des Romans als sie in dem Laden steht, in dem sie verkauft werden soll. Manchmal hat sie das Glück, dass Manager, wie sie die Verkäuferin nennt, sie zusammen mit einem andere Artificial Friend in das Schaufenster stellt. So kann sie das Geschehen auf der Straße beobachten und bekommt einige Sonnenstrahlen ab. Das klingt nicht sonderlich spektakulär. Doch Ishiguro weiß Klara mit einer besonderen Neugier und Beobachtungsgabe auszustatten, sodass sie Absurditäten in dem für uns Alltäglichen entdeckt – eine Sichtweise, die häufig zum Schmunzeln einlädt, manchmal jedoch auch die Abgründe des Lebens mit brutaler Ehrlichkeit skizziert. So gerne Klara auch im Schaufenster steht und hinausschaut, ihr großes Ziel ist es, von einem Kind ausgewählt und zu seinem besten Freund zu werden. Als Manager schon fast die Hoffnung verloren hat, ihren Schützling zu vermitteln, gelingt es doch. Klara zieht zu einem Mädchen von schwacher Gesundheit aufs Land.

Künstliche Gefühle, echte Intelligenz

Klara lernt, sich in dem Leben des Mädchens zurechtzufinden. Sie studiert den Tagesablauf, lernt alle wichtigen Personen aus dem Umfeld kennen, beobachtet, was ihrem Kind Freude bereitet und wird zu seinem besten Artificial Friend. Immer wieder begegnet sie der Ansicht, als Künstliche Intelligenz sei sie nicht dazu in der Lage, Gefühle nachzuvollziehen. Doch ihre Beschreibungen zeugen vom Gegenteil. Sie ist traurig, wenn ihr Kind traurig ist. Sie ist begeistert, als sie das erste Mal über ein Feld läuft. Sie hat Mitgefühl mit dem Freund ihres Kindes, als dieser von ihr alleingelassen wird. Inwieweit es sich dabei um echte Trauer, Begeisterung oder Mitgefühl handelt, lässt sich nicht genau bestimmen. Hier öffnet sich Raum für technisch-philosophische Diskussionen. Diese werden leider nur angerissen. Mehr Indizien, die diese Ideen verstärken, hätten das Buch sicher bereichert. Nicht nur an dieser Stelle mangelt es an einer tiefgründigeren Ausgestaltung des Geschehens. Zusätzlich wirkt Klara and the Sun aufgrund der fehlenden moralischen und rechtlichen Komponente nicht komplett. Ist es richtig, einen Roboter für sein Kind zu kaufen? Wie ist eine solche Künstliche Intelligenz zu behandeln? Was geschieht, wenn eine Künstliche Intelligenz Straftaten begeht (eben dies geschieht im Romanverlauf, doch eine Antwort auf diese Frage fehlt gänzlich)? Auch weitere Aspekte wie beispielsweise die Angst davor, dass Künstliche Intelligenzen den Menschen überwachsen könnten, werden nur angerissen. Dies führt zwar zum einen zu dem angenehmen Nebeneffekt, dass Kazuo Ishiguro keinen typischen Science-Fiction-Roman geschrieben hat, in dem Roboter versuchen, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Dennoch hätte diese Linie auch mit tiefgründigeren Erläuterungen verfolgt werden können.

Große Unterhaltung, kleine Details

Klara and The Sun ist ein langsamer Roman. Es passiert nicht viel, aber doch genug. Klaras genaue Betrachtungen machen ihn aus. Hinzu kommt die immerzu positive Grundhaltung der Künstlichen Intelligenz. Sie gibt die Hoffnung nie auf, auch nicht als ihr Kind zu sterben droht. Dabei wirkt Klara manchmal selbst naiv wie ein Kind. So fragt man sich beim Lesen unweigerlich – ist das noch eine Maschine oder schon ein Mensch? Und wundern, dass die Familie Klara in ihr Herz geschlossen hat, obwohl sie doch nur ein Roboter ist, kann man sich schon nach wenigen Seiten nicht mehr. Denn man selbst fühlt rasch ähnlich. So gelingt es Kazuo Ishiguro mit seinem Roman großartig zu unterhalten, auch wenn er an einigen Stellen mehr ins Detail hätte gehen können. Doch er zeigt: Die oft bedrohlich wirkende Künstliche Intelligenz kann auch ihre positiven Seiten haben. Nun bleibt nur noch abzuwarten, dass Elon Musk Klara and the Sun liest. Vielleicht haben wir dann in einigen Jahren alle einen Artificial Friend. Bis dahin müssen wir uns wohl mit der Lektüre dieses Romans begnügen.

Kazuo Ishiguro: Klara and the Sun
Faber Press, 312 Seiten
Preis: 14,99 Pounds
ISBN: 978-0-571-36488-6

Kazuo Ishiguro: Klara und die Sonne
Blessing Verlag, 352 Seiten
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-89667-693-1

2 Gedanken zu „Künstliche Intelligenz, ein sterbendes Kind und ganz viele Gefühle

  1. Pingback: Was bislang geschah und wie es weitergeht… | literaturundfeuilleton

  2. Sehr schöne Rezension. Es war eines meiner Lese-Highlights des vergangenen Jahres, auch eines, das mein Vertrauen in die Literatur wieder bestärkt hat. Diese sanfte Emphase und völlig Distanziertheit von Grobheit und Gewalt hat mich zutiefst berührt. Ishiguro ist es gelungen, m.E., poetisch an der Sprache und der Erzählbarkeit entlang zu streifen. Gerade die Andeutung der Details hat mir gefallen, diese Zurückhaltung und der Fokus aufs Gemeinsame und das schrittweise Verstehen- und Kennen-Lernen. Ich werde das Buch sicherlich noch einmal lesen. Solche Rezension bestärken mich darin 🙂 Viele Grüße.

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