Der Italiener mit den zwei Leben

Der Schriftsteller Umberto Eco. Bogaerts, Rob / Anefo, CC0, via Wikimedia Commons

Zu seinem 90. Geburtstag möchte ich Sie in die Romanwelten des bekanntesten italienischen Autors der Nachkriegszeit entführen. Umberto Ecos Romane, denen er seine Zeichentheorie zugrunde legte, bergen viele Geheimnisse, die zu entschlüsseln für den geneigten Leser selten einfach ist. Und doch ist da – zumindest bei mir – stets die Faszination für diesen gelehrten Autor, der seine Figuren mühelos durch die europäische Geschichte stapfen lässt.

von THOMAS STÖCK

Es hätte auch für zwei Leben gereicht, was er alles in einem bewerkstelligt hat: Umberto Eco hat als Professor für Semiotik zahlreiche Publikationen veröffentlicht, die auch heute noch gern in literaturwissenschaftlichen Arbeiten zitiert werden. Doch Ecos Zeichentheorie ist nicht bloß theoretischer Natur – wie so viele andere unter uns Literaturwissenschaftlern frönte auch Eco seiner Leidenschaft, die er selbst als „libido scribendi“ titulierte, literarische Werke zu verfassen. Dabei gelang es Eco, seine Vorstellung der Zeichen in Romanform praktisch umzusetzen. Eine weitere Facette seines Œuvres schuf der Piemontese durch seine Kommentare zur modernen Kultur, von denen Der ewige Faschismus (2020 auf Deutsch veröffentlicht) posthum erschien. Bereits vor knapp sechs Jahren verstarb er nämlich, der Italiener mit den zwei Leben.

Wann immer ich an Ecos Romane denke, fällt mir vor allem ein Wort ein, mit dem ich sein Schaffen beschreiben möchte: beeindruckend. Schon Der Name der Rose (erstmals 1980, auf Deutsch 1982) – ein Welterfolg und zugleich Ecos Premiere als Romanautor – entführt uns in eine Benediktinerabtei im 14. Jahrhundert, noch einige Jahre vor dem europaweiten Ausbruch der Pest. Ganz nebenbei, so mutet es fast an, werden vor dem Leser die Lehren des Thomas von Aquin ausgebreitet, parallel dazu entspinnt sich der Streit der Mönche um das Lachen, den vornehmlich Jorge von Burgos (angelegt an Jorge Luis Borges) sowie der an Sherlock Holmes angelegte Detektiv William von Baskerville führen. Der Leser wird außerdem in das Labyrinth hineingeworfen, als das sich die Bibliothek der Abtei entpuppt. Auch die zahlreichen anzutreffenden Sprachen, kulminierend in der Ausdrucksweise des polyglotten Salvatore, erschweren die Orientierung in diesem überaus gelehrten Werk. Ein kleiner Auszug sei präsentiert, in dem Eco sein ganzes Talent aufzeigt:

„‚Penitenziagite! Siehe, draco venturus est am Fressen anima tua! La mortz est super nos! Prego, daß Vater unser komm, a liberar nos vom Übel de todas le peccata. Ah, ah, hihihi, Euch gfallt wohl ista negromanzia de Domini Nostri Jesu Christi! Et anco jois m’es dols e plazer m’es dolors… Cave el diabolo! Semper m’aguaita, immer piekster und stichter, el diabolo, per adentarme le carcagna. Aber Salvatore non est insipiens, no no, Salvatore weiß Bescheid. Et aqui beonum monasterium, hier lebstu gut, se tu priega dominum nostrum. Et el resto valet un figo secco. Amen. Oder?‘“

Vervollkommnet wird Ecos Roman durch die überaus komplexe Struktur, die das mehrfache Abschreiben eines Manuskripts vom Erzähler und Chronisten Adson von Melk fingiert, der wiederum seine Schrift in sieben Tage und diese in den mönchischen Tagesablauf gliedert. Auch in anderen Romanen Ecos finden sich ähnlich komplexe Strukturen, allein die Themen reichen von der Beschäftigung mit der Zeit zu Zeiten des Barock (Die Insel des vorigen Tages) über Verschwörungstheorien im 20. Jahrhundert (Das Foucault’sche Pendel) zum Zweiten Weltkrieg (Die geheimnisvolle Flamme der Königin Loana) – und darüber hinaus.

Ein Schelm, der Gutes schreibt

Quälend sind sie manchmal, die Reisen, auf die uns Eco entführt. Diese Romane, die sich in Zeichen hüllen, geben ihre Geheimnisse nicht so einfach preis, wie man das mitunter gern hätte. Ein wenig anders ist dies im Falle von Baudolino, dem vierten von Ecos Romanen, zugleich dem wohl fröhlichsten in diesem Reigen. Der gleichnamige Ich-Erzähler Baudolino, der genau wie Salvatore viele Sprachen spricht und diese so manches Mal vermischt, ist das Paradebeispiel eines unzuverlässigen Erzählers im Zeichen des Schelmenromans. Zu seinen Errungenschaften zählt er unter anderem die Gründung der Stadt Alessandria, der Heimat Ecos, sowie seine Protektion durch den Stauferkönig Friedrich Barbarossa. In immer abstruseren Wendungen führt Baudolino den König – und natürlich auch sich selbst – an den Rand der damals bekannten Welt und sogar darüber hinaus. Zum sagenumwobenen Reich des Priesterkönigs Johannes reisen sie über den steinernen Fluss Sambation hinweg zur Stadt Pndapetzim, wo der angebliche Priesterkönig von Skiapoden, Satyrn und Blemmyern umgeben ist, wo also Fabelwesen ihr Unwesen treiben.

Wie bei den übrigen Romanen Ecos fällt mir auch zu Baudolino vor allem das Adjektiv beeindruckend ein. Doch Baudolino ist noch etwas Anderes: Er ist heiter und lebensfroh, er weissagt nicht den Untergang des Mittelalters wie Der Name der Rose und erklärt auch nicht die manischen Denkkonstrukte von Verschwörungstheoretikern wie das Foucault’sche Pendel. Nein, er führt uns ein in die Fantasie eines klugen, wenngleich nicht immer der Wahrheit treu bleibenden Weltenbummlers sowie in den Vorstellungskosmos des Hochmittelalters, in dem eben auch Fabelwesen für tatsächlich existent gehalten wurden. Ein wenig leichter geht dieser Roman Ecos von der Hand, weil er doch in weiten Teilen einfach eine schöne Geschichte ist. Und mir persönlich fiel es noch leichter Ecos „libido scribendi“ zu folgen, weil ich der Hörspielfassung Baudolinos lauschte. Und so tauchte ich ein in das Leben des Schelmen Baudolino – eines von vielen Leben, die uns Eco hinterlassen hat:

„Chi non legge, a 70 anni avrà vissuto una sola vita: la propria. Chi legge avrà vissuto 5.000 anni: c’era quando Caino uccise Abele, quando Renzo sposò Lucia, quando Leopardi amminirava l’infinito. Perché la lettura è un’immortalità all’indietro.“

— Umberto Eco: le frasi più celebri, dai social al terrorismo

„Wer nicht liest, wird 70 Jahre lang nur ein einziges Leben gelebt haben: sein eigenes. Wer liest, wird hingegen 5.000 Jahre gelebt haben: Er war anwesend, als Kain Abel tötete, als Renzo Lucia heiratete, als [Giacomo] Leopardi die Unendlichkeit bestaunte.  Denn das Lesen ist eine umgedrehte Unsterblichkeit.“ (eigene Übersetzung)

Danke für deine vielen Leben, Signore Eco.

Umberto Eco: Der Name der Rose. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber
dtv, 784 Seiten
Preis: 12,95 Euro
ISBN: 978-3-423-08660-8

Umberto Eco: Baudolino. Hörspiel mit Jens Wawrczeck, Peter Fricke, Michael Habeck
Der Hörverlag, 6 Stunden 9 Minuten
Preis: 13,95 Euro
ISBN: 978-3-8445-0576-4

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