Die Langsamkeit der 1970er

Jonathan Franzen: Crossroads; Cover: Rowohlt Verlag

In Crossroads, dem Auftakt zur Trilogie Ein Schlüssel zu allen Mythologien, beginnt Jonathan Franzen sein Opus Magnum in Form eines Familienromans in epischer Breite. Herz des Werks ist die Familie Hildebrandt in einem Vorort von Chicago im Jahr 1971. Nach dem Lesen der über 800 Seiten ist man ein Teil der Familie und ihrer Moral- und Glaubenskrise geworden – und will mehr. Franzen hat, wie gewohnt, ein Meisterwerk der psychologischen Betrachtung des Topos Familie geliefert.

von LISA THEISSEN

Wie in seinem Welterfolg Die Korrekturen zeichnet Jonathan Franzen erneut das Psychogramm einer Familie und ihrer innersten Verstrickungen miteinander. Die Familie des Gemeindepfarrers Russel Hildebrandt in dem kleinen Vorort New Prospect im Jahr 1971 zur Weihnachtszeit ist vordergründig spießig und völlig normal US-amerikanisch. Aber es wäre kein Franzen, wenn diese Oberfläche schon alles wäre. In jedem Abschnitt des Romans lernt man durch eine wechselnde Ich-Perspektive nach und nach die sechs Familienmitglieder kennen. Die Handlung entwickelt sich allein durch den Wechsel der Erzählperspektive und das eröffnet dem Autor unzählige Möglichkeiten, einen Cliffhanger nach dem anderen einzubauen. Auf kunstvolle Weise nimmt Franzen den netflixgeprägten Leser aus der heutigen Zeit sofort mit in diese mosaikhaft erzählte Geschichte. Es gleicht einer literarischen Version von soziokulturellen Studien wie The Wire und ist groß angelegt und virtuos konstruiert wie American Horror Story. Man „pflegt“ mit dem älteren Sohn Perry „auf einem Vernunftniveau zu operieren, das anderen unzugänglich“ ist und verkauft und nimmt mit ihm Drogen, wie Hasch und Alkohol. Man geht mit der Pfarrersgattin Marion zu ihrer Psychotherapeutin und erfährt einiges aus ihrer gewaltbelasteten und von Psychosen geprägten Vergangenheit. Diese kann sie dann mit ihrem religiösen Glauben und ihrem Ehemann Russ hinter sich lassen. Oder man ist angewidert vom Familienoberhaupt Russ, dem nur ‚zweiten‘ Gemeindepfarrer, der wie ein räudiger Hund hinter der gerade verwitweten, hübschen Frances Cottrell herläuft und sich dabei im Selbstmitleid suhlt, um die Rechtfertigung für seine innersten sexuellen Triebe und den herbeigesehnten Seitensprung vor Gott zu finden. Auch der jüngste Sohn Judson und die hübsche und überall beliebte Tochter Becky haben ihre eigene Verflechtung in dieser Familie und der Gemeinde, die nach und nach ihr unglückliches Gesicht zeigt.

Die 70er als Kontrast zur digitalisierten Welt

Alles im Roman wirkt auf den Leser der heutigen Zeit fremd und unverdorben, als wäre man in einer Zivilisation eines anderen Planeten gelandet. Der Vietnamkrieg neigt sich dem Ende zu. Die wichtigste Frage für den Sohn Clem ist, ob er aus Liebe zu seiner Freundin Sharon nicht von sich verlangen muss, sich noch für diesen Krieg zu verpflichten. Er gibt seinen Studienplatz auf, verlässt seine Freundin und meldet sich per Brief zum Kriegsdienst, um seinen Beitrag zu leisten und gegen den gepredigten Pazifismus seines „Alten“ zu rebellieren. Ohne Digitalisierung und die Möglichkeiten des Internets ist der Einwurf des Briefs in einen Postkasten eine endgültige Entscheidung. Bis ins kleinste Detail wird die Zeit der 70er in den damaligen USA samt Hippiekultur, Cannabiskonsum und der Infragestellung des eigenen Glaubens gezeichnet. Als Leser wünscht man sich fast in die klar abgrenzbaren Probleme der damaligen Gesellschaft zurück. Alles wirkt so langsam und in Zeitlupe im Gegensatz zum heutigen undurchsichtigen Chaos und der Lichtgeschwindigkeit der digitalen Welt. Die Hildebrandts sind auf der Suche nach der einen, wahren Moral. In der Welt dieser Familie kämpft nämlich jedes Mitglied darum, seinen richtigen Weg im Leben des Glaubens und der Gesellschaft zu finden.

Glaube und Moral als Motivation

Die Jugendgruppe Crossroads ist das Zentrum des Romans, an dem alle Fäden zusammenlaufen. In dieser Gruppe, die von Russels Kontrahent Rick Ambrose geleitet wird, geht es darum, eine neue Form der Kirche zu leben. Ein praktizierter Glauben in zu zweit geführten Gesprächen auf Augenhöhe sind Hauptbestandteil ihrer Treffen. Das zentrale Thema des Romans ist kein geringeres als der Glaube an Gott, an dem sich alle Hauptfiguren stoßen. Russ, der in einer mennonitischen Familie groß wird und während seines Zivildienstes den Spiritismus der Navajos entdeckt. Oder Marion, die durch eine manische Form des Glaubens in der katholischen Kirche eine vermeintliche Heilung ihrer Psychose erwirkt. Und die Kinder der Familie, die in ihrer Jugend alle die ersten Schritte auf dem Weg zu ihrer Persönlichkeit als Gläubige in Crossroads und der Kirche der First Reformed machen.

„Der von kahlen Eichen und Ulmen durchbrochene Himmel, an dem zwei Frontensysteme die grauen Köpfe zusammensteckten, um New Prospect weiße Weihnachten zu bescheren, war voll feuchter Verheißung, als Russ Hildebrandt wie jeden Morgen in seinem Plymouth-Fury-Kombi zu den Bettlägerigen und Senilen der Gemeinde fuhr.“

Dies ist der Auftakt eines großartigen Werks, das glücklicherweise noch nicht zu Ende ist. Der Roman hat diesen ureigenen Sog, in dem man als Leser verschwindet und nicht genug kriegen kann von seinen Figuren und den Schilderungen gesellschaftlicher Probleme sowie der Entfaltung einer fiktiven Studie einzelner Epochen der amerikanischen Geschichte. In Unschuld war es die Zeit der Digitalisierung inklusive eines Ausflugs in den kalten Krieg und die DDR. Im Generationenroman Freiheit bestimmt die Freiheit des Einzelnen und ihrer Grenzen für die Umwelt die Handlung. Franzen öffnet einem die Augen für die Themen der Gegenwart. Das ist seine Stärke und macht ihn zu einem der größten Schriftsteller unserer Zeit.

Jonathan Franzen: Crossroads. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Rowohlt Verlag, 825 Seiten
Preis: 28,00 Euro
ISBN: 978-3-498-02008-8

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