Der Mittler zwischen West und Ost

Der Autor Mathias Énard. Thesupermat, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons

Heute wird der französische Schriftsteller, Übersetzer und Orientalist Mathias Énard 50 Jahre alt. Anlässlich seines Geburtstags werfen wir einen Blick auf sein Werk, das sich auf die Fahnen geschrieben hat, die heute unvereinbar wirkenden Pole Orient und Okzident zusammenzuführen. Heraus springt dabei eine Reise durch die Kulturgeschichte, in der die Austauschbeziehungen seit hunderten von Jahren sichtbar werden.

von THOMAS STÖCK

Im Kosmos der französischen Literaturwelt mutet Mathias Énard wie ein Exot an. Den häufig anzutreffenden, leicht zugänglichen Stil französischer Autoren, den zum Beispiel Nobelpreisträger Patrick Modiano oder auch der umstrittene, zugleich aber erfolgreiche Michel Houellebecq vertreten, hat sich Énard gerade nicht zu eigen gemacht. Vielleicht ist es die zeitliche Nähe zu meinem zuletzt erschienen Porträt, vielleicht ist es aber auch Énards beinahe akademischer Stil, der mich an Umberto Eco denken lässt. Der französische Journalist Grégoire Leménager spricht im Falle Énards von „érudition“, von einem gelehrten Werk also, und setzt ihn in eine Reihe mit Honoré de Balzac, dessen Comédie humaine so monumental ist, dass ihre 92 Einzeltitel wohl kaum eine Person unserer Tage in Gänze gelesen hat. Da können wir von Glück sprechen, dass Énard noch nicht dieselbe Fülle an Werken erreicht hat, sodass wir mit einem genaueren Blick auf seine Romane schauen können. Denn genau das ist nötig, sind diese Texte doch so dicht, dass sie zu durchdringen eine große Herausforderung darstellt.

Da ist zum Beispiel der Roman Zone, der Énard den Prix du Livre 2009 einhandelte. Dieser 500 Seiten starke Text ist ohne Punkte, dafür mit zahlreichen Kommata geschrieben – ein einziger Satz erstreckt sich über die gesamte Lesedistanz. Ein ähnliches Unterfangen vollzog zuletzt Friedrich Christian Delius, dies aber „nur“ in Novellenform. Zone stellt eine erste Etappe auf der Reise in den Osten dar, in den Jugoslawienkrieg nämlich. Eine gegenteilige Bewegung vollzieht sich wiederum in der Straße der Diebe. Dieser Roman ist von der Flüchtlingskrise beeinflusst, die sich 2011 entwickelte. Énard zeigt auf, wie junge, perspektivlose Marokkaner in die Fänge des Islamismus geraten, jedoch ohne dabei ein Untergangsszenario zu deklamieren, wie dies der bereits erwähnte Houellebecq tut. In Barcelona, Énards Wahlheimat, begegnete und unterhielt er sich mit den Figuren seines Romans. Auch hier wird die gemeinsame Vergangenheit von Ost und West deutlich, die – wie auf dem Balkan auch – einerseits von kriegerischen Konflikten, andererseits aber auch von einer kulturellen Begegnung geprägt ist. So leben die jungen Araber im Stadtteil Raval, ein Wort, das sich aus dem Arabischen ableitet, Stadtviertel bedeutet und aus der Zeit des maurischen Spaniens stammt. Diese Spuren sind heute noch an vielen Orten Spaniens erkennbar.

Wenn der Kompass nicht nach Norden zeigt

Ein weiterer kriegerischer Konflikt im Begegnungsraum Ost-West wird Anlass für den 2015 mit dem Prix Goncourt prämierten Werk Boussole (frz.: Boussole). Der Syrienkonflikt, der ebenfalls im Jahr 2011 eine Eskalation der Gewalt hervorrief, führte unter anderem zur Zerstörung griechischer Ruinen in Palmyra durch den IS sowie starken Beschädigungen an dem kulturellen Zentrum der Region, Aleppo, die den Ehrentitel „Hauptstadt der Islamischen Kultur“ trägt. Kompass entführt den Leser jedoch nicht nur in ein Kriegsgebiet, sondern gleichsam in die kulturellen Sphären der westlichen Welt, in denen der Orient zu einem Sehnsuchtsort erwuchs. So stieß ich beispielsweise auf das Buch im Rahmen eines Seminars über Goethes West-Östlichen Divan, da Goethe und sein Werk auch im Kompass eine prominente Rolle einnehmen. Doch Goethe ist natürlich nur der Ausgangspunkt für den Gelehrten-Schriftsteller Énard. Über Mozart und Hafis, die Ägyptomanie und Joseph von Hammer-Purgstall dringt der Leser immer tiefer vor.

Das Name-Dropping von Werken und Autoren ist, herausfordernd, stellenweise gar äußerst anstrengend, besonders dann, wenn man ernsthaft versucht herauszufinden, was es mit diesen ganzen Orientreisenden und ihren Texten auf sich hat. Sieht man darüber hinweg, bleiben der Protagonist Franz Ritter und seine große Liebe, Sarah, die wiederum nur Augen für den Orient hat. Ihre Reisen führen sie in beide Richtungen dieses Kosmos, denn genau darum geht es Énard: Der kulturelle Austausch fand und findet in beide Richtungen statt. Und der Krieg, gegen den Énard anschreibt und der seit Jahrhunderten immer wieder Einzug in diesen Kosmos hält, ist nur eine der Facetten im Kontakt zwischen Orient und Okzident. So wird denn auch Wien nicht zur letzten Bastion vor dem osmanischen Einfall ins christliche Europa erklärt, sondern stattdessen von Sarah als Porta Orientis wahrgenommen. Schon hier, mitten in Europa, begegnen wir also dem vermeintlich Fremden. Denn für viele Europäer zeigte der innere Kompass nicht nach Norden – sondern nach Osten. Wer sich an dieser Stelle noch ausführlicher mit Mathias Énard beschäftigen möchte, dem sei das Porträt bzw. Interview mit Deutschlandfunk Kultur anempfohlen. Ansonsten bleibt nur noch zu sagen: Bon anniversaire!

Mathias Énard: Kompass. Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Verlag, 432 Seiten
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-446-25426-8

Mathias Énard: Straße der Diebe. Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller
Hanser Verlag, 352 Seiten
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3-446-24365-1

Mathias Énard: Zone. Übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller
Piper Verlag, 592 Seiten
Preis: 14,00 Euro
ISBN: 978-3-8333-0800-0

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