Die Reinheit liegt im Porno

Garth Greenwell: reinheit; Cover: Claassen

Garth Greenwell eröffnet in seinen Texten das Panoptikum der Bilder, Gefühle und Affekte. Seine neueste Erscheinung reinheit begleitet einen Mann durch die Orte einer Stadt, die zugleich Stationen seines Lebens, seiner Liebe und seines Leidens sind, und dabei die Leserschaft durch Sex und Poesie nahe am körperlichen Miterleben zu halten versucht. Nicht immer gelingt das.

von NICK PULINA

„Ich kenne niemand anderen, der darüber spricht, der so offen damit umgeht und sich nicht dafür schämt“, sagt Schüler G. zum namenlosen Ich-Erzähler. Dass es sich bei seinem Gesprächspartner um seinen Lehrer handelt, ist dabei weniger ausschlaggebend als der Topos der Unterhaltung: homosexuelle Identitätsfindung in einer Gesellschaft, die diese unterdrückt.

Zwischen Verlieben und Vergessen

In Bulgariens Hauptstadt Sofia treffen diese grundverschiedenen und in ihrem Wunsch nach unangepasster Freiheit sehr ähnlichen Charaktere aufeinander. Beide stehen abseits der konservativen Norm, beide haben geliebt und beiden wurde das Herz gebrochen. Der Erzähler, ein temporär immigrierter Amerikaner, ist dem jungen G. jedoch vermeintlich voraus, denn er hat sich mit seiner zerrütteten Liebe abgefunden und sie zu akzeptieren gelernt. Ein Zustand, den zu erreichen er nun auch in bester Vertrauenslehrermanier an seinen Zuhörer weiterzugeben versucht, der sich dies allerdings mit wachsender Abscheu verbittet. Doch dieser will nicht vergessen, seine Gefühle nicht zum Schweigen bringen, sonst sei alles umsonst gewesen, der Traum müsse eines Tages wahr werden.

Es sind diese Pole, zwischen denen Greenwells Text mäandert. In Form kürzerer rückblickender Erzählungen begleiten wir den Ich-Erzähler auf seiner geografischen wie emotionalen Reise durch Sofia. Zwischen Freiheitsdemonstrationen, riskanten Sexdates und der Gewissheit, all dies bald hinter sich zu lassen, beginnt die Gewissheit der vermeintlich verarbeiteten Liebe bald zu bröckeln und könnte mit etwas mehr schriftstellerischem Geschick glatt das Potential zu einer homoerotischen Ulysses-Reminiszenz bieten.

Zeichensetzung ist nicht out!

Leider mangelt es gerade in sprachstilistischen Fragen immer wieder an Klarheit und Präzision. Nicht nur, dass Greenwell sich des leider immer wieder verwirrenden Stilmittels der undefinierten wörtlichen Rede annimmt und auf jegliche Kenntlichmachung derselben verzichtet. Sein Versuch, die Leser:innen am Gedankenstrom des Erzählers teilhaben zu lassen, will auch nicht so recht gelingen. Die gleichzeitige Vermeidung von Anführungszeichen und Punkten – letztere werden benutzt, aber viel zu gern durch unnötige Kommas ersetzt – erscheint nicht so künstlerisch wertvoll, wie der Autor es vielleicht gern gehabt hätte. Im Gegenteil, die Ausdrucksweise wirkt gekünstelt und gezwungen, auch wenn eine autobiografische Deutung des Textes, so verpönt sie auch ist, aufgrund der Nähe zum eigenen Lebenslauf Greenwells nahe liegt. Er lebte und arbeitete selbst für einige Jahre als Lehrer am American College in Sofia, die als ältestes amerikanisches Bildungsinstitut außerhalb der USA gilt. Insofern ist der Handlungsort zwar nicht beliebig, jedoch auch nicht rein handlungsgetrieben gewählt. Der Konservatismus steht im Vordergrund des lokalen Charakters.

So viel zum Wie. Das Was ist es, das Greenwells fluides Textwesen aus Roman, Erzählband und Anthologie so lesenswert macht. Zugegeben, es ist zunächst ein weiterer Text auf dem gesättigten Markt der Identitätskunst. Doch auch wer meint, das alles schon tausendfach gelesen zu haben, wird hier auf neue Impulse und Sichtweisen stoßen. Das Ping-Pong zwischen den einzelnen Eindrücken und Zuständen der Erzählinstanz bietet zahlreiche für sich betrachtet äußerst nahbare Geschichten, die sich zusammengenommen zu einem emotional fühlbaren Mosaik zusammensetzen lassen.

Gattung? Body-Genre!

Durch seinen zum Teil schmerzhaft ungeschönten Gestus werden Greenwells Beschreibungen (auch danke Daniel Schreibers sehr gelungener Übersetzung) so greifbar, dass die Leser:innen selbst spüren, wie sich ein Halsband um ihre Kehle legt, eine Hand auf ihr Hinterteil herniedersaust, eine Situation zu eskalieren droht. In klassischer BDSM-Praxis wird nach dem Schmerz jedoch auch belohnt. Diese Rewards bekommen wir in Form des Seiltanzes zwischen zart-poetischen Liebesbeschreibungen und delikat-pornografischen Erotikbeschreibungen, die die spontane Pein eines unbedachten Sex-Treffens im fremden Keller aufzufangen wissen. Zuckerbrot und Peitsche in Form von Sinnlichkeit und Unterdrückung – im Einzelnen wie im Kollektiven.

Der Namenlose wird Sofia verlassen, auch wenn seine amerikanische Heimat, wo sein Ich zwar nicht die Norm, aber doch zumindest tolerabel ist, nicht mehr reizt. Seine Bekanntschaften bleiben im konservativen Bulgarien zurück, wo sie sich weiterhin mit ihrer Identität arrangieren müssen. Was bleibt ihnen anderes übrig?

Passend zum Thema empfehlen wir Ihnen den Blog Books are gay as fuck, der auch von einem Komparatistik-Studierenden der RUB ins Leben gerufen wurde.

Garth Greenwell: reinheit. Aus dem Englischen übersetzt von Daniel Schreiber
Claassen, 304 Seiten
Preis: 23,00 Euro
ISBN: 978-3-546-10029-8

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