Der neue Gedichtband Mich lockt die Liebe mit ihren Stacheln der nicaraguanischen Lyrikerin Gioconda Belli verspricht erotische Episoden inmitten vom Kampf gegen Ungerechtigkeiten. Gegen die Unterdrückung der Frau und eine mörderische Diktatur schreibt die Autorin schon seit Jahrzehnten an. Doch ist dieses Dichten voraussetzungsreich – weshalb wir uns einen Exkurs in nicaraguanischer Geschichte gestatten.
von THOMAS STÖCK
Nicaragua, das Land der Dichter. Wenngleich man das Land landläufig nicht in einen solchen Sinnzusammenhang stellt, so haben Dichter und Denker doch einen maßgeblichen Einfluss auf die jüngere Geschichte des mittelamerikanischen Landes. Für das Verständnis von Gioconda Bellis Gedichtband Mich lockt die Liebe mit ihren Stacheln ist nach meinem Dafürhalten ein kleiner Exkurs in ebendiese Geschichte unerlässlich – insbesondere dann, wenn man nicht Zeitzeuge der Guerilla in den 1970ern sowie des Bürgerkriegs der 1980er Jahre in dem Land war.
Geprägt ist Nicaraguas Geschichte von dem Einfluss der USA. Immer wieder unterstützten sie bestimmte Machthaber oder politische Gruppierungen, um die eigenen Interessen leichter durchsetzen zu können. Die bedeutendste Gestalt des Widerstands gegen den US-amerikanischen Einfluss ist zweifellos der Guerillaanführer Augusto César Sandino. Die US-Regierung installierte zwischen den beiden Weltkriegen eine Nationalgarde im Land, die die Anwesenheit der Marines überflüssig machte. Oberbefehlshaber über die Nationalgarde war Anastasio Somoza García, dessen Onkel zugleich zum Präsidenten ernannt wurde. Sandino legte zum Zeitpunkt des US-amerikanischen Truppenabzugs die Waffen nieder. Auf einem Festbankett ließ ihn Somoza liquidieren. So wurde er zum schillernden Symbol des Kampfes gegen das diktatorische Regime, das unter den Fittichen der USA stand. Die Sandinisten waren geboren.
Belli und Cardenal gegen Daniel Ortega
Die heute regierende Partei, die Sandinistische Nationale Befreiungsfront (kurz: FSLN), nahm in den 1970er Jahren den Kampf gegen das Somoza-Regime auf. An dessen Spitze stand mittlerweile Somoza Garcías Sohn. Denn den Vater erschoss der nicaraguanische Dichter Rigoberto López Pérez, der diesen Mord selbst mit dem Leben bezahlte. In den Reihen der FSLN fand sich auch die junge Lyrikerin Gioconda Belli. Sie machte jedoch nicht nur durch ihren gewaltsamen Widerstand auf sich aufmerksam. Auch mit Worten wehrte sie sich gegen die überkommenen patriarchalen Strukturen, die Frauen in Nicaragua marginalisieren. Ihre erotischen Gedichtbände riefen in dem konservativ-katholischen Land schnell den Widerstand der Kirchen auf den Plan, doch erzielten die Sandinisten und andere Parteien auch durch Bellis Einsatz wichtige Fortschritte in der Emanzipation der nicaraguanischen Frauen. Unter anderem deshalb konnte 1990 Violeta Chamorro Präsidentin des gebeutelten Landes werden.
Noch vor Chamorro gelangte ein dritter Dichter zu einer einflussreichen Stellung. Es handelt sich um Ernesto Cardenal, der 2020 verstorben ist. Er war insgesamt acht Jahre Kulturminister des Landes – bis zur Schließung seines Ministeriums 1987. In dieser Funktion setzte er sich für eine friedvolle Annäherung der vormaligen Konfliktparteien ein. Außerdem bekämpfte er die Analphabetenrate von etwa 70 Prozent und förderte die indigene Kultur im Land. Genau wie Belli zählte Cardenal zu bedeutendsten Kritikern des amtierenden Präsidenten von Nicaragua – dem de-facto-Diktator Daniel Ortega. Belli musste 2020 Nicaragua erneut verlassen und schrieb ihr Nachwort für den vorliegenden Gedichtband im Exil.
Triptychon eines bewegten Lebens
Ja doch, wir sind endlich bei des Pudels Kern angelangt: den Gedichten! Belli legt ihren Gedichtband einem Triptychon gleich an, in dem Erotik, Frauenrechte und poésie engagée das Werk inhaltlich strukturieren. In leicht zugänglichen freien Rhythmen entspinnen sich die Fäden ihrer Gedichte. Selten sind das die roten Fäden einer erzählenden Prosa, die sich makellos durch die Seiten schlängeln. Häufiger erinnern die dichten Bilder an ein Wollknäuel, das man entwirren muss, bevor es einem Zugang gewährt zum Erzählkosmos. So finden sich in Bougainvillea-Liebe, aus dem der titelgebende Vers des Bandes stammt, Pflanzen- und Tiermetaphorik auf die Liebe übertragen. Stacheln stechen, es kratzt, springt, klettert und windet sich die Liebe – oder vielmehr winden sich die Liebenden in ihrem Spiel, einander zu entdecken. Auch Flug setzt in einer vermeintlich abstrakten Szenerie ein, in der das lyrische Ich ihre Beobachtungen aneinanderreiht. Wer da fliegt, ist ihre Liebschaft, der sie wehmutsvoll nachträumt:
„[…] vergieße zügellose Traurigkeit, sie überschwemmt
mein Antlitz ganz umsonst oder weil vielleicht oder damit bloß nicht
die feuchte Spur deine Füße findet und du zurückkehrst.“
Begehren und Schmerz, sehnsuchtsvolles Warten, das in Ungeduld kulminiert. Nach meiner anfänglichen Befürchtung, das Metaphern-Wollknäuel könnte sich als gordischer Knoten entpuppen, nehmen mich diese in Bilder gebannten Emotionen in ihren Besitz. Doch auch mit plastischeren Worten weiß Belli umzugehen. In Phallus ist das lyrische Ich auf der Suche nach einer Metapher für das männliche Glied, doch „Turm, Apparat, Projektil“ erscheinen ihr alle wenig angemessen für den Reiz des Phallus. Genau diesen Reiz verliert er jedoch, „wenn er besänftigt ist und sich zurückzieht“. Lieber ist es dem lyrischen Ich, „wenn er wieder wild wird und / so zu sein versucht wie vorher“.
Erfahrungen der nächsten Generation hinterlassen
Wo die erotischen Gedichte noch eine höchstpersönliche Note entfalten, merkt man in den anderen beiden Themenbereichen den direkten Kontakt zwischen Leserschaft und Lyrikerin. Viele Gedichte im zweiten Kapitel, „Das Wesen ohne Penis“, richten einen Appell an die Frauenschaft, so zum Beispiel bereits im Titel Ratschläge für die starke Frau und Lasst uns zeichnen. Gioconda Bellis Erfahrungsschatz zeigt sie der nächsten Generation. In ihren Gedichten begegnen uns außerdem Frauen in verschiedenen Gefühlslagen, deren Alltag aber nach wie vor am heimischen Herd stattfindet:
„Wann wird das Paar
gemeinsam für den Haufen Wäsche da sein
das noch zu kochende Gemüse
und die Töpfe, die sie beide putzen?“
Auch an die Männer richtet Belli ihre Aufforderungen. In Wechselfälle des Feminismus greift sie Despektierlichkeiten von ängstlichen Männern auf, die die Forderung nach Gleichberechtigung durch Begriffe wie „Feminazi“ stigmatisieren.
Ihr Kampf für diese Rechte fechtet sie seit langem aus. Sie lässt sich aus über Straflosigkeit, Die eingesperrte Wahrheit oder die Zeit der Tyrannen. Auch Ernesto Cardenal schreibt sie ein Abschiedsgedicht, um den Kämpfer für die gerechte Sache angemessen zu würdigen. Welche Missstände Belli da kritisiert, wird eingangs dieser Rezension deutlich. Doch welche Gefühle die Missstände hervorrufen, das weiß sie in Die Poesie in Zeiten der Grausamkeit trefflicher zu benennen als ich:
„Die Brust der Frau ist eine Feueresse
in der das Holz des Tages brennt. Sie ist voll Rauch
und dieser Rauch treibt ihr die Tränen in die Augen.
Die Frau schreit. Öffnet den Mund, und ein Sturmwind bricht hervor.“
Der Sturm, der sich da Bahn bricht, es ist die Poesie. „Was kann die Poesie schon tun?“, fragt die Frau. Belli zeigt es uns.
Gioconda Belli: Mich lockt die Liebe mit ihren Stacheln. Gedichte. Aus dem Spanischen von Lutz Kliche
Peter Hammer Verlag, 96 Seiten
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-7795-0677-5
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