Der Dandy vom Dorf in Kyjiw

Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt; Cover: Guggolz Verlag

Nicht alle Tage kommt es vor, dass man eine solche Perle dem eingestaubten Regal der vergessenen Bücher entreißen kann! Walerjan Pidmohylnyjs Die Stadt gelingt der Spagat, einen der großen europäischen Künstler- und Großstadtromane um 1900 verfasst zu haben und zugleich das Flair einer sowjetischen Tauwetterperiode zu vermitteln, die uns heute weitestgehend unbekannt ist: die der Neuen Ökonomischen Politik und der Ukrainisierung. Doch was in der Literatur ein gutes Ende nimmt, endete für dessen Autor tödlich.

von THOMAS STÖCK

Was muss sich der Verleger Sebastian Guggolz die Hände gerieben haben, als er diese Übersetzung an Land ziehen konnte! Der lange Zeit dem Vergessen anheim gegebene ukrainische Autor Walerjan Pidmohylnyj, 1937 im Zuge der stalinistischen Säuberungen erschossen, hat mit Die Stadt ein Kleinod der wohl europäischsten Literaturepoche hinterlassen. Kurzum: Dieses Buch ist wohl die Wiederentdeckung des Jahres. Von einem Geheimtipp muss ich gar nicht sprechen, wenn bereits renommierte Medien wie der Deutschlandfunk oder die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung in höchsten Tönen von der Stadt reden. Ich darf Ihnen aber gern davon berichten, was mich an diesem Roman hellauf begeistert.

Dorian Gray in Berlin Alexanderplatz

Beginnen wir doch mit den literarischen Vergleichen, die dem Leser ganz von allein in den Sinn kommen, wenn er an der Seite des Protagonisten Stepan Radtschenko durch Kyjiw flaniert. Der Dorfjunge blickt zunächst voller Misstrauen auf die am Dnipro gelegene Ansammlung von Menschenhand geschaffener Bauwerke. Wie Franz Biberkopf in Berlin Alexanderplatz (1929, also zwei Jahre nach Die Stadt veröffentlicht) scheint er zunächst von der Großstadt überfordert. Doch Stepans Leben ist eine Aufstiegsgeschichte von einem einfachen Bauern, den an es die Universität verschlägt – wie dies auch Stoner in John Williams‘ gleichnamigen Roman (1965) widerfährt. Stepan gewöhnt sich schnell an die vielfältigen Facetten, in der sich ihm das Großstadtleben präsentiert, und so probiert er sich in einer Vielzahl von Rollen selbst aus. Dabei mischen sich in seiner Person der amateurhafte Dilettant, dem die Dinge nicht recht gelingen mögen und der sich immer wieder neuen Tätigkeitsfeldern zuwendet, und das künstlerische Genie, das in seiner von Melancholie geprägten Einsamkeit herausragende Kunst schafft (hier Literatur).

Doch auch vom Dandy hat Stepan einen Gutteil seines Charakters mitbekommen. Ganz so wie Dorian Gray (The Picture of Dorian Gray, 1890) tritt der ehemalige Dörfler mit entschiedener Selbstsicherheit – man möchte sagen: Egozentrik – dem weiblichen Geschlecht gegenüber. Seine Liebschaften verklärt er romantisch und doch nimmt er nie Rücksicht auf für ihn gehegte Gefühle. Es spricht Bände, dass er mit einer Prostituierten einfühlsamere Gespräche führt als mit den Frauen, die er gern erobert und dann links liegen lässt. Dies geschieht immer unter der Prämisse, dass er sie sogar vergewaltigen und im Anschluss verlassen kann, sie aber trotzdem stets zu ihm zurückwollen, wie Stepan glaubt. Doch geht es allen Damen so? Eine unter ihnen, Zoya, lässt aus Stepan eher eine Figur im Stile von Leopold von Sacher-Masochs Protagonisten Severin (Venus im Pelz, 1870) werden, der sich der weiblichen Dominanz vollständig anheimgibt. Die Erzählstimme hält sich in allen von Stepans Ergüssen (im doppelten Sinne) bedeckt und überlässt uns hübsch selbst das Urteil über diesen misogynen Wunderknaben. Doch belassen wir es bei diesem Panoptikum der intertextuellen Beziehungen, die sich an dieser Stelle noch nicht erschöpft haben – Interessierte können im Text selbst sowie im Nachwort der Übersetzer weitere Anregungen finden.

Als die Sowjetunion blühte

Die Stadt hegt zwar den Anspruch, von Kyjiw ausgehend eine Verallgemeinerung des Stadtlebens schlechthin vorzunehmen, doch statt eines Exempels für eine x-beliebige europäische Stadt treffen wir ein typisch sowjetisches Gefilde an. Dass die Uhren doch anders in der heutigen Ukraine ticken, wird besonders durch den sowjetischen Bürokratieapparat deutlich. Aber selbst für den sowjetischen Raum ist Die Stadt außergewöhnlich, weil dieses Werk in einer äußerst kurzen Tauwetterperiode entstanden ist, in der Lenin und zunächst auch Stalin der Wirtschaft eine freiere Hand gaben und den in der Sowjetunion lebenden Nationen eine Stimme. Schlagworte dieses Kurses sind die Neue Ökonomische Politik sowie die Ukrainisierung. Nach den Bürgerkriegswirren hat sich die uns so präsentierte Gesellschaft erholt und Figuren wie Stepan gelingt der soziale Aufstieg. Auch von der Ukrainisierung profitiert er hinreichend, sodass er vom Studenten zum Ukrainischdozenten und im Anschluss zum ukrainischen Schriftsteller mutiert. In gewisser Hinsicht ist hierin eine mise en abyme von Pidmohylnyjs eigenem Wirken zu sehen, der jedoch schon 1930 aufgrund seiner Stellung als ukrainischem Autor nicht mehr publizieren konnte. Die Blüte einer echten Sowjetkultur – die eingedenk der Verbrechen an den Menschewiki immer noch genug andere Probleme mit sich bringt – wurde schon allzu bald im Keim erstickt.

Pidmohylnyjs Roman, der vor dieser Zeitenwende das Licht der literarischen Welt erblickte und zunächst auch positiv rezipiert wurde, weiß zu unserem Glück noch nichts von dem drohenden Unheil. So zeigt uns das Werk einen (Un-)Möglichkeitsraum auf, in dem die Sowjetunion zu einem Schmelztiegel verschiedener Kulturen hätte erwachsen können. Augenscheinlich ist so etwas in diktatorischen Regimen wie dem Kommunismus jedoch nicht möglich, da kulturelle Vielfalt stets eine Bedrohung für die herrschende Kaste ist. Dabei existieren in der Stadt kaum kritische Untertöne, wie sie sich etwa in Andrei Platonows Die Baugrube (1930) oder Alexander Solschenizyns Werk zeigen sollten. Pidmohylnyjs persönlicher Werdegang ist leider zugleich ein trauriges Zeugnis des Ausgangs der Ukrainisierung. Im aktuellen politischen Diskurs wird von russischer Seite behauptet, dass die Ukraine ein Konstrukt der sowjetischen Machthaber gewesen sei und dass die Ukraine vorher nicht existiert habe. Doch lässt Stalins Vernichtungswille ethnischer Minderheiten in den 1930er Jahren das wahre Gesicht dieser Sowjetpolitik nachvollziehen: Andersheit wird nur so lange toleriert, wie sie aus der eigenen Schwäche heraus toleriert werden muss. Nach der Festigung seiner Herrschaft eliminierte Stalin jeden, der nicht für ihn war. Parallelen zum radioaktiven Giftmischer und Angriffskriegsherren im Kreml dieser Tage sind nicht zufälliger Natur.

Ein wertvolles Übersetzungsprojekt

Aber zurück zu erquicklicheren Themen. Eine Frage abseits der Romanhandlung hatte nämlich bereits die Titelei der Stadt in mir aufgeworfen. Vier Übersetzer – merkt man das einem Text an? Zuletzt war die Übersetzungsdebatte prominent aufgrund Amanda Gormans Werk The Hill We Climb geführt worden. Immerhin drei Personen waren an der Übersetzung dieser Lyrik beteiligt. Im Falle von Pidmohylnyjs Übersetzung war das Zusammenspiel der vier Personen jedoch nicht auf postkolonialen Identitätsdebatten gegründet, sondern ein seminaristisches Übersetzungsprojekt an der Humboldt-Universität zu Berlin. Und dieses Projekt kann man als rundum gelungen bezeichnen: Wie aus einem Guss wirkt der Text; Nähte, Übergänge, Grenzen oder derlei wurden erfolgreich vermieden. Und vielleicht liegt hier auch die Zukunft des Übersetzens, denn eine gelungene Übersetzung stellt stets einen Dialog dar zwischen dem Original und den Lesern der Fremdsprache. Und diesen Dialog kann man am besten führen, wenn man nicht allein ist. Schließlich brauchen selbst die erfolgreichsten Künstler den Dialog mit ihren Mitmenschen, wie uns Stepan Radtschenko beweist. Am Ende des Tages muss er doch stets zurück auf die Straßen Kyjiws, um seine Erlebnisse zu Erzählungen zu stilisieren.

Walerjan Pidmohylnyj: Die Stadt. Aus dem Ukrainischen von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok. Nachwort von Alexander Kratochvil, Lina Zalitok und Susanne Frank
Guggolz Verlag, 413 Seiten
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-945370-35-3

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