Aller Anfang ist schwer (1): Der fliegende Berg

Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg; Cover: S. Fischer

Kann man erzählen, nachdem man stirbt? Genau diesen Eindruck erweckt der erste Satz – erwecken vielmehr die ersten Verse – von Christoph Ransmayrs Epos Der fliegende Berg. Das paradoxale Erzählen des Protagonisten Patrick entführt uns in eine menschenfeindliche Welt, in die eisweißen Höhen des Himalayas.

von THOMAS STÖCK

„Ich starb
6840 Meter über dem Meeresspiegel
am vierten Mai im Jahr des Pferdes.“

Der fliegende Berg beginnt mit einer Todesbotschaft. Doch wie kann das sein – ich starb? Wie kann ein Ich von seinem eigenen Tod erzählen? In fantastischer Literatur oder im Mythos begegnen wir vielleicht dem Topos eines toten Erzählers, aber nur selten in der Belletristik, die sich an Naturgesetze hält. Eine Ausnahme stellt Ulrich Plenzdorfs Die neuen Leiden des jungen W. dar. Hier erzählt uns Edgar retrospektiv von den Ereignissen, die zu seinem Ableben führten. Auch Dietmar Daths Roman Leider bin ich tot spielt im Titel mit genau dieser Motivik. Im fliegenden Berg ist es Patrick, der uns von seinem Tod erzählt. Christoph Ransmayr lässt seinen Protagonisten im sogenannten Flattervers erzählen. Dabei handelt es sich um einen Vers, der sich am mündlichen Vortrag der Wörter orientiert. Die erste Pointe, erreicht durch eine Pause am Ende des Verses, ist also der Tod des bis hierhin noch namenlosen Ich-Erzählers.

Keine Erklärung gibt es bis hierhin für diesen Tod. Erst nachgeschoben im zweiten Vers erfahren wir etwas mehr. 6.840 Meter über dem Meeresspiegel, das löst in uns die Vorstellung einer lebensfeindlichen Natur aus. Es muss sich um eine Landschaft im ewigen Schnee und Eis handeln, in der Flora und Fauna kaum existieren können – und in der es auch die Menschen schwer haben. Im dritten Vers dann dämmert uns die Erkenntnis, dass diese Landschaft nicht dem europäischen Kulturkreis angehören kann. Patrick erzählt von einem Jahr des Pferdes, das manche möglicherweise aus chinesischen oder japanischen Horoskopen kennen. Erst an späterer Stelle wird deutlich, dass hier der tibetische Zwölf-Jahres-Kalender gemeint ist. Das Jahr des Pferdes verführt uns zu den Fragen, was Patrick bei seiner Expedition geritten hat und was er wohl suchte, als er den Tod fand.

„Ich lebte.“ – „Mein Bruder ist tot.“

Patrick stirbt jedoch nur vermeintlich – er glaubt schlicht, er sei gestorben. Erst im Laufe des ersten Kapitels wird der erzählerische Scheinwiderspruch aufgelöst und Patrick weilt wieder unter den Lebenden. Einher geht diese Erkenntnis jedoch mit einer zweiten, nämlich: „Mein Bruder ist tot.“ Patricks Bruder Liam wiederum hat sein Leben aufs Spiel gesetzt, um den Ich-Erzähler aus einer tödlichen Falle zu befreien. Die Wege hin zu der Situation, in der sich die beiden irischen Brüder befinden, ergeben ein ganzes Epos (auch wenn Roman auf dem Cover steht, denn Romane verkaufen sich schließlich besser als Epen). Eine Reise um die halbe Welt in 368 Seiten – eingeleitet durch einen Tod, der nicht sein kann.

Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg. Roman
Fischer Taschenbuch, 368 Seiten
Preis: 14,00 Euro
ISBN: 978-3-3596171958

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