Eine vergangene Stille, eine andauernde Katastrophe, ein Weitermachen, ein altbekannter Theaterbetrieb, eine Frage der Kunst, ein Freud’scher Freischütz, eine politische Debatte, ein antiker Mythos, eine moderne Herangehensweise, ein einsaugendes Konstrukt, zwei Londoner Theatergenies, ein Vorschlag zum Diskurs, keine Getränkeempfehlung. Herzlich willkommen in der lesBar auf Abwegen!
von NICK PULINA
Servus in die Runde,
nach dem relativen Schweigen des letzten Monats sind die Gedanken wieder einigermaßen geordnet, auch wenn nach wie vor alles aus dem Ruder zu laufen scheint. Die Fragen, inwieweit Pläsier im Angesicht der Vorkommnisse überhaupt erlaubt sein kann, ist an vielen Baustellen erläutert worden. Ob einen die Ergebnisoffenheit zufrieden stellt… Wer bin ich, das zu beurteilen?
Dass die Kunst jedoch, egal ob als Mittel der Verdrängung oder der direkten Auseinandersetzung, nicht ihren Stellenwert verlieren darf, ist für mich eine indiskutable Frage. Zu leicht sind die Vorwürfe der Augenwischerei getätigt, wenn es doch um etwas ganz Anderes geht: Verantwortung. Wo sich die hiesige Kunst seit Jahrzehnten in einer – seien wir ehrlich – doch sehr konfliktarmen, heilen Blase politisch positioniert, aufrührerisch, gar prärevolutionär aufgeladen hat, kann sie nun zeigen, was wirklich in ihr steckt. Bedienen wir uns weiterhin am Topf des bequemen ewig Gegenwärtigen oder nehmen wir uns einer realen Bedrohung, einer echten Katastrophe an?
Verstehen Sie mich nicht falsch, ich bin der letzte, der beispielsweise dem Repertoirebetrieb deutscher Schauspiel- und Opernhäuser seinen musealen Umgang mit historischen Stoffen vorwirft, ganz im Gegenteil. Wenn Kay Voges in Hannover dem Freischütz äußerst bildlich seine Kastrationsangst vor Augen führt und „die deutsche Nationaloper“ im Kontext masturbierender Nazis mit Strap-On-Dildos und Märchengestalten inszeniert, breche ich in stehende Ovationen aus. Denn liegt nicht genau hier der goldene Weg: in den uns verbindenden Erzählungen?
Es mag gewagt erscheinen, Penisamputation mit Heckenschere und verzweifelt nach dem Deutschen suchende Gnome als verbindenden Mythos einer ganzen Bevölkerungsgruppe zu verstehen, aber ich stehe dahinter. Der deutsche Wald geriet nicht nur im Opernhaus selbst heftig ins Wanken, als Voges’ Produktion im Jahr 2015, der Hochzeit von PEGIDA und Co., in der niedersächsischen Landeshauptstadt Premiere hatte.
Insofern es allerdings eine europäische Wir-Identität gibt, basiert sie, und da werden wohl nur noch die wenigsten widersprechen, auf der griechischen Antike: das Geschlecht des Atreus, der Olymp, Troja und der Untergang all derer. Wie aus diesem alten, aber tagesaktuellen Stoff noch immer Kunst gemacht werden kann, die unterhält und zugleich aufrüttelt, beweist derzeit das britische Theaterkollektiv Punchdrunk.
Ich hatte Ihnen ja bereits vor zwei Monaten versprochen, dass es im April große News geben würde, und hier sind sie: Punchdrunk ist wieder da. Die Gruppe um die Regisseur:innen Felix Barrett und Maxine Doyle, die für ihre hochgradig immersiven (ich weiß, ich weiß…) und detailverliebt ausufernden Theaterinstallationen bekannt geworden sind, haben in London ihr bisher größtes und ambitioniertestes Opus vorgestellt: The Burnt City.
Die Besucher:innen betreten Ausstellungsräume mit antiken Relikten der Belagerung und des Falls Trojas. Eingebettet in eine Geschichte um den deutschen Archäologen und Troja-Entdecker Heinrich Schliemann werden einige Objekte zur Schau gestellt, die kurz darauf zum Leben erwachen – gemeinsam mit Troja und Mykene.
Ausgestattet mit den typischen Punchdrunk-Masken, die das Publikum zu einer homogenen Masse gespenstisch weißer, stummer Figuren machen, betreten wir Troja. Zum letzten Mal erblüht in dieser Nacht das Leben in den labyrinthartigen Straßen der Stadt, zum letzten Mal mäandern die sterblichen und göttlichen Bewohner durch die Gassen, zum letzten Mal wallt das Leben zwischen den Bars, Läden und Wohnhäusern.
Wir, schätzungsweise 150 Besucher pro Vorstellung, sind dazu angehalten, durch die über 100 frei begehbaren Räume zu streifen, die bis zur Perfektion ausgestattet sind. Neben den zahllosen Etablissements und Räumlichkeiten Trojas, das in seiner Gestaltung nah an den düsteren Visionen aus Fritz Langs Metropolis gehalten ist, beinhaltet der Performance-Space auch einen Grenzübergang. Wohin der führt? In die griechische Belagerungsstadt Mykene, die hier direkt vor die Tore Trojas verlegt wurde. Und auch hier können wir uns frei bewegen.
In zwei riesigen Lagerhallen hat Punchdrunk seine neueste Arbeit angesiedelt, nur verbunden durch zwei einzelne, schmale Gänge. Es soll vorgekommen sein, dass Besucher:innen, nach der Vorstellung mit ihren Begleitungen wiedervereint, ganz aufgeregt von einem Marktplatz, einer Sake-Bar und einem Hotel berichteten, während die andere Person all dies gar nicht zu Gesicht bekommen hatte, da sie sich ausschließlich in einer der beiden Welten bewegt und gar keinen Übergang entdeckt hatte. Wie wunderbar!

Dass man etwas verpasst, liegt in der Natur der Sache. Allein die bloße Handlung des Stücks, dargeboten von schätzungsweise 25 hochtalentierten Performer:innen, bietet auch knapp 25 Stunden Material, das es zu entdecken gilt. In einer dreistündigen Vorstellung spielen alle Figuren ihren jeweils einstündigen Handlungsbogen in drei sich wiederholenden Loops, sodass die Besucher:innen zumindest die Chance haben, mehr als nur einer Figur und ihrer Geschichte zu folgen. Die Mathematiker unter uns können sich ausrechnen, wie viele Besuche es braucht, um der reinen Figurenhandlung bis zum Ende nachzukommen.
Hinzu kommen die Räume, die als eigenständige narrative Elemente angesehen werden können. Wer sich in Agamemnons Hauptquartier setzt, kann Stunden damit verbringen, Berichte zu lesen, Codes zu entziffern und durch die Tagebücher seiner Soldaten zu blättern. Tatsächlich kann sich so über viele Stunden die gesamte Handlung rein durch Raum und Requisite erarbeitet werden, ohne auch nur eine einzige Performerin eines Blicks zu würdigen. Schade wär’s dann aber doch um die großartig choreografierten und bebilderten Szenen der lebenden Figuren.
Die Handlung… Ja… Also es geht um Troja und dessen Fall, so viel ist klar. Dazu kommen die Opferung Iphigenies, Agamemnons Ermordung und die Vereinigung der beiden im Tod (herzzerreißende Szene!). Dann sind da noch Götter, Hesperiden und sogar Heinrich Schliemann wurde hie und da gesehen…
Seien Sie nachsichtig mit mir, ich habe selbst erst zwei Vorstellungen besucht, und dabei handelte es sich sogar noch um die im britischen und amerikanischen Theatersystem gängigen Previews vor der eigentlichen Premiere. Dass ich überhaupt so viel der Handlung mitbekommen habe, liegt an reiflicher Quellenarbeit nach der ersten Vorstellung, die ich mit vielen Fragezeichen im Kopf, aber Unmengen an Liebe im Herzen verließ.
Wo ist da nun der groß angekündigte künstlerisch-politische Mehrwert? Die Ilias kann ich ja schließlich auch zu Hause ohne Tanzeinlagen, Blut und nackte Menschen lesen. Der Faktor liegt nicht im Konsumieren, sondern im Erleben.
Damit will ich nicht sagen, dass eine Nacht im Punchdrunk’schen Performancespace einer realen Kriegserfahrung auch nur nahekommt! Ich will sagen, dass die Fragen einer künstlerisch-theatralen Arbeit meiner bescheidenen Erfahrung nach gerade dann hängen bleiben und in ihren Rezipierenden einen Reflexionsprozess starten, wenn sie nicht bloß vorgespielt, sondern miterlebt werden. Wer drei Stunden lang zwischen Vernichtung und Extase, Mord und Leben mäandert, dabei durch Panzerblockaden läuft und blutigsten Gräueltaten beiwohnt, geht ganz anders mit einem Stoff und seinen intrinsischen Botschaften um als jemand, der sie vorgefertigt serviert bekommt – nicht zwangsläufig besser, aber anders!
Man mag Punchdrunk vorwerfen, die politische Dimension lediglich als Medium für überwältigendes Illusionstheater zu nutzen, aber das ist zu kurz gedacht. Selbst Besucher:innen, die mit reiner (gerechtfertigter) Genusslust an die Produktion herangehen, werden mit Bildern, Gedanken und Fragen herauskommen, die sie nicht einfach loslassen werden, bewusst oder unbewusst. Vielleicht liegt gerade hier der Schlüssel zu einem neuen Stellenwert der Kunst im Diskurs unserer Zeit.
Ihr
Nick Pulina
PS: Keine Getränkeempfehlung dieses Mal. Ich wollte Ihnen eigentlich, trotz des Risikos der Geschmacklosigkeit, meine heiß geliebte Bloody Mary ans Herz legen. Nachdem ich diese aber im Kontext meines letzten London-Besuchs in einer der besten Cocktailbars Europas getrunken und die größte flüssige Enttäuschung meines Lebens erlebt habe, bleiben wir vielleicht doch einmal beim Wasser.
PPS: Gut gemeinter Rat, wenn Sie auf einer Cocktailkarte einen Drink finden, der traditionellerweise mit einer Handvoll Zutaten auskommt und hier über 40 Komponenten beinhaltet: Werden Sie misstrauisch. Hummerfonds und Algenpesto haben nichts in gut gemixtem Alkohol verloren!
PPPS: Sie waren mal bei Punchdrunk und suchen Austausch? Schreiben Sie mir unter @culinanick bei Instagram, ich vernetze Sie gern weiter!