In Timo Feldhaus’ Mary Shelleys Zimmer treffen die literarischen und politischen Granden der 1810er Jahre in einem erstaunlich modernen Ambiente aufeinander. Eine wahrhaftige Klimakrise bricht aus – im doppelten Sinne, denn ursächlich für das „Jahr ohne Sommer“ (1816) ist der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora ein Jahr zuvor. Vielen Menschen bringt dieses Ereignis Hunger und Leid, Mary Shelley ebnet es den Weg zu ihrem literarischen Kind: Frankensteins Monster. Ein auffallend zeitgenössischer Roman entspinnt sich in diesem historischen Panorama.
von THOMAS STÖCK
Das Jahr 1815 ist gemeinhin nicht dafür bekannt, dass sich in diesem Zeitraum Europa der Moderne zuwendet. Damals bricht Napoleon von der Insel Elba auf, um ein zweites Mal die europäischen Monarchen (und die vielen Soldaten, die für sie ihr Leben lassen müssen) in Angst und Schrecken zu versetzen. Sein Plan scheitert und diesmal muss er seine letzten Tage inmitten der wohl effektivsten Türme der Welt fristen: die brandenden Fluten des Atlantik um die Insel Sankt Helena. Unterdessen restauriert die geistig verknöcherte Elite auf dem Wiener Kongress eine alte, längst untergegangene Weltordnung. Die Schlacht bei Waterloo entscheidet das Schicksal Europas. Laut Timo Feldhaus ist für den Schlachtausgang vor allem ein Wetterereignis verantwortlich: der Ausbruch des auf einer indonesischen Insel gelegenen Vulkans Tambora. Dieser verdunkelt den Himmel und sorgt dafür, dass Napoleons aufgeteilte Truppen im regennassen Gelände nicht schnell genug wieder zusammenfinden, um die britischen Truppen aufzureiben. „Ich wollte, es wäre Nacht oder die Preußen kämen“, soll Wellington im Verlauf der Schlacht ausgerufen haben. Nach neuesten Erkenntnissen profitiert er von beidem.
Das gewaltige Ausmaß der Eruption ist bis heute wenig bekannt, weil deren Zeitgenossen ihre Tragweite verkennen (und die Nachrichtenwege noch nicht so gut ausgebaut sind, dass das europäische Festland Notiz nimmt). Der Ausbruch des Tambora ist etwa viermal so stark wie derselbige des Krakataus von 1883, der noch heute im kulturellen Gedächtnis verhaftet ist für die schiere Gewalt, mit der er die ansässige Bevölkerung überraschte. Im Falle des Tambora sind die Menschen zwei Tage lang in einem Umkreis von 600 Kilometern in vollkommene Dunkelheit gehüllt, noch 1.800 Kilometer weiter hören die Menschen den Knall, den der Ausbruch erzeugt. Weit über 100.000 Menschen raffen der Ausbruch und die sich anschließende Hungerkrise im indonesischen Raum hin. Und auch bis nach Europa zieht die Aschewolke, die sich noch höher als Regenwolken ausbreitet und die deshalb nicht abregnen kann. Zwischen 0,4 und 0,8 Grad sinkt in diesen Tagen die globale Oberflächentemperatur und ganz Europa ist von Missernten betroffen.
Die Kunst bricht auf, die Gesellschaft hinkt hinterher
In diesen Zeiten kommen erstmals Begriffe wie Klima und Nachhaltigkeit auf. Krisenzeiten, das hat uns bereits die Geschichte der Pest gelehrt, bringen neue Ideen. Durch die Missernten gelangen viele Arbeiter in die Städte und setzen sich an neumodische Maschinen, welche die fortschreitende Industrialisierung hervorbringt. Und auch die aufstrebende Künstlergeneration beginnt, sich mit einem neuen Lebensstil auseinanderzusetzen. Da sind zum Beispiel Mary Godwin, uns heute als Mary Wollstonecraft Shelley bekannt, und ihr Lebensgefährte Percy Bysshe Shelley, die eine Form freier Liebe ausleben und dafür gesellschaftlich geächtet sind. In einer ménage à trois mit Marys Halbschwester Claire reisen sie herum und durch das Zusammentreffen mit Lord Byron und dessen Leibarzt John Polidori ufert die Vieleckbeziehung gar in eine noch viel kompliziertere Gemengelage aus. Gemeinsam sprechen sie über Schauergeschichten, die neuesten naturwissenschaftlichen Themen (insbesondere Strom!), ihren Vegetarismus und die ganzen schönen Kleinigkeiten, die das Dandytum so ausmachen.
Doch sind sie keineswegs die Einzigen, die Feldhaus zu Wort kommen lässt. Natürlich darf der weltmännische, aber auch patriarchale Goethe nicht fehlen, der ob des Erstarkens der deutschnationalen Bewegung rund um die romantische Kunst nur mit dem Kopf schütteln kann. So progressiv sein Weltbürgertum ist, so reaktionär erscheint sein Blick auf die künstlerische Freiheit, die für ihn nur in den engen Grenzen der Klassik zu existieren vermag. Auch findet sich Caspar David Friedrich in diesem illustren Reigen ein, der mitsamt seinen Farben in seinen eigenen vier Wänden vertrocknet, weil ihm sein großes Idol Goethe die ersehnte Zustimmung zu seiner Kunst verwehrt. Ebenso bringt sich die junge Katharina von Württemberg durch die Ideen zur Bildung von Kindern und Armenfürsorge ein, welche auf Johann Heinrich Pestalozzi zurückgehen. Außerdem ist da noch der „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, dessen Deutschtümelei, Körperkult und Antisemitismus bei einem Gutteil der Bevölkerung auf fruchtbaren Boden stößt. In vielerlei Hinsicht sind die Romantiker und ihre Gegner die Vorboten des 20. Jahrhunderts und der Nachwehen, mit denen wir uns heute noch konfrontiert sehen.
Zeitgenössischer Roman mit historischen Figuren
Der eigentliche Kniff dieser Erzählung ist jedoch, dass er nicht versucht, historischer Roman zu sein, obwohl hier ja diese Vielzahl an historischen Figuren zu Wort kommt. Denn darum geht es: Feldhaus vermittelt uns, dass bereits um 1815 viele Ideen geboren werden, die uns noch heute auf Schritt und Tritt begleiten. Natürlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn das Thema Nachhaltigkeit durch das Roden der Wälder zur Sprache kommt, der zunehmenden Entwaldung jedoch mit dem Steinkohleabbau begegnet wird. Und doch sind Klimakrise und Vegetarismus, Bildung für alle und die Beseitigung sozialer Ungleichheit genau das, was auch uns und unsere Politiker heute umtreibt. Böse formuliert könnte man sagen, wir haben uns in diesen 200 Jahren nicht wesentlich weiterentwickelt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Nicht länger sind es irgendwelche geistigen Eliten, die diese großen Reden schwingen und den Worten keine Taten folgen lassen, sondern wir selbst bringen uns tatkräftig in die Diskurse mit ein.
Ungefähr diese „Macher“-Attitüde umgibt Mary Shelley. Als Percy und Lord Byron ihren Wettbewerb im schweizerischen Genf 1816 ausrufen, wer denn die beste Gruselgeschichte verfassen soll, ist sie diejenige (neben Polidori), die diesen Aufruf ernst nimmt. Während sich die beiden Popstars Percy und Byron ihren Vergnügungen widmen, schafft Mary ihre Erzählung um das Monster. Den beiden Herren sei zugestanden, dass auch aus ihrer Feder der ein oder andere Text in diesen Tagen sprießt, doch die nachhaltigste Wirkung zeitigt Frankenstein oder Der moderne Prometheus (1818). Man möchte fast sagen: Ein Glück, dass Mary Shelley sich nicht die Sonne auf den Bauch scheinen lassen kann und sie stattdessen zur Feder greift.
Timo Feldhaus: Mary Shelleys Zimmer. Als 1816 ein Vulkan die Welt verdunkelte
Rowohlt Verlag, 320 Seiten
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-498-00236-7
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