W. G. Sebald steht für Foto-Text-Kombinationen wie kein zweiter Autor. In seinen Texten verhandelt der nach England ausgewanderte Schriftsteller die Bedeutung der Fotografie für das Gedächtnis. Dabei zeigt sich an den Schwarzweißfotografien das enorme Potenzial von intermedial konstruierten Erzählwerken – und das, obwohl Sebald auch die Grenzen der fotografischen Erinnerung überdeutlich sichtbar macht.
von THOMAS STÖCK
Am 18. Mai 1944 erblickte W. G. Sebald in Wertach im Allgäu das Licht der Welt. Licht und der dazugehörige Schatten, das sind auch die beiden bestimmenden Parameter seiner literarischen Produktion. Sebald ist nämlich Vertreter der Gattung des Ikonotexts. Noch nie gehört? Kein Wunder, ist Sebald schließlich der einzige Autor (zumindest von Namen), der ausschließlich solche Texte geschaffen hat. Es handelt sich bei Ikonotexten um Foto-Text-Kombinationen, also um ein Genre, in dem Foto und Text gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Sebald zeigt in seinen Texten Schwarzweißfotografien. Wie das funktioniert, demonstriere ich Ihnen am besten anhand eines einzigartigen Romans: Austerlitz. Dieser Roman ist der letzte, der vor Sebalds Tod veröffentlicht wurde. Damit passt er herausragend zu Sebalds Verständnis von Fotografie, auf dem das menschliche Wesen herumgeistert, ein Verweis auf jemanden, der nicht mehr existiert oder zumindest nicht mehr existieren wird.
Muttersuche
In Austerlitz begibt sich der Protagonist Jacques Austerlitz auf die Suche nach seinen verstorbenen Eltern. Eigentlich wächst Jacques jedoch in Wales unter dem Namen Dafydd Elias auf. Jacques Austerlitz, so erfährt er von einem seiner Lehrer, ist sein Geburtsname, denn seine tschechischen Eltern sandten ihn nach Großbritannien, um ihn vor den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs zu retten. Bereits sein Name Austerlitz weckt eine Vielzahl an Assoziationen: Er erinnert an eine Schlacht, von Napoleon Bonaparte gefochten; an einen gleichnamigen Pariser Bahnhof; er ist der Geburtsname Fred Astaires sowie der Name einer Zeugin der Verbrechen des Faschismus und zu guter Letzt trägt auch eine Figur in Kafkas Tagebüchern diesen Namen.
Austerlitz begegnet einem namenlosen Ich-Erzähler im Wartesaal des Antwerpener Bahnhofs, dem „Salle des pas perdus“ – also der Halle der nicht Vergessenen. Doch Jacques hat seine Vergangenheit vergessen. Auf seiner Reise durch Europa, auf der er selbst architektonische Auffälligkeiten wie die Spiegel am Antwerpener Bahnhof fotografiert, geraten ihm einige Fotos in die Hände, die ihm bekannte Personen zeigen. Das Titelbild der Fischer-Ausgabe beispielsweise soll ihn selbst zeigen. Er hat jedoch keine Erinnerung an diesen Moment. Und auch die Mutter erblickt er – einmal als Schauspielerin auf einer Theaterbühne, gebannt auf eine Fotografie; ein anderes Mal auf einem Filmstill aus einem Nazi-Propagandafilm im Theresienstädter Ghetto. Vielleicht ahnen Sie es bereits: In Theater und Film gibt die Mutter vor, eine Andere zu sein, als sie eigentlich ist. Jacques’ krampfhafte Suche nach dem wahren Wesen seiner Mutter misslingt, denn die Bilder von ihr wecken keinerlei Assoziation zu seiner Kindheit. Was er sieht, hat mit ihm nichts zu tun.
Offene Wunden: punctum und studium
Wie Sebald sich die Funktionsweise von solchen Bildern vorstellt, lässt sich am besten mit Roland Barthes’ Theorie von studium und punctum begreiflich machen. In La chambre claire spürt Barthes auch seiner Mutter nach. Auf seiner fotografischen Reise führt er aus, dass manche Bilder ihn ‚verwunden‘. Was den Betrachter verwundet, ist stets ein subjektives Element und steht in einem engen Zusammenhang zum sogenannten studium. Dieses studium steht in einem engen Zusammenhang mit der Intention eines Fotografen. Je durchkomponierter eine Fotografie ist, desto allumfassender ist demnach das studium. Daraus folgt: Für ein punctum ist auf solchen Bildern kein Platz mehr. Hingegen sind es vermeintliche Momentaufnahmen, Bilder, auf denen man sich unbeachtet fühlt, die in Barthes diese Wunde auslösen. Für das Genre des Ikonotexts eignet sich diese Theorie vorzüglich, stellt sie doch eine Parallele zu Barthes’ Theorie vom Tod des Autors (in La mort de l’auteur) dar. Der Fotograf repräsentiert den Autor, das Fotografierte den Text und der Bildbetrachter den Leser.
Im Falle der Fotos in Austerlitz sind ein Theater- und ein Filmregisseur für die Bildkomposition verantwortlich. Diese Bilder sind nicht dazu in der Lage, im Betrachter Jacques Austerlitz etwas auszulösen, zumal die Bilder aus dem Film des Theresienstädter Ghettos „gewissermaßen im Aufscheinen schon vergehen […]“. Zugleich werden in einer Zeitlupenkopie des Films Personen sichtbar, die in Echtzeitgeschwindigkeit unsichtbar sind. Diese Personen scheinen Austerlitz zufolge zu schweben. Wo die Toten die Zeitlupenkopie erhellen, verblasst die Erinnerung an ihr Erbe. Austerlitz’ Vergangenheit liegt für ihn bereits vollständig in der Dunkelheit. Im Gedächtnis können Fotografien nur dann etwas auslösen, wenn sie eine Wunde öffnen, die nie ganz verschlossen gewesen ist.
W. G. Sebald: Austerlitz
S. Fischer, 432 Seiten
Preis: 14,00 Euro
ISBN: 978-3-596-14864-6