Aller Anfang ist schwer (3): Faust

Mephisto und Faust. Szene aus einer Aufführung des Urfaust am Jürgen-Fehling-Theater in Berlin Zehlendorf im Oktober 1945; Foto von Abraham Pisarek.

Sie sitzen an Ihrem heimischen Schreibtisch und denken über eines der bedeutendsten Werke aus Ihrer Feder nach, das die deutschsprachige Literatur ihr eigen nennen wird – doch wissen Sie nicht, wie Sie dieses Werk zu Papier bringen sollen. Tragisch, womit sich ein so großer Dichter wie Goethe herumschlagen musste! Manchmal ist der erste Satz der schwerste, was uns heute der Auftakt von Goethes Faust bezeugt.

von THOMAS STÖCK

„Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten,
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.“

Stellen Sie sich vor, Sie möchten einen Text schreiben – und 60 Jahre später ist dieser Text immer noch nicht fertig. Anders als Texte, die man zu bestimmten Abgabefristen fertigstellen muss, sind diejenigen Schriften, die wir zuvorderst nur für uns selbst anfertigen. Und ohne Frist kann es geschehen, dass wir deren Fertigstellung immer und immer wieder aufschieben. An der Aufschieberitis erkrankte einst sogar der größte deutsche Dichter Johann Wolfgang von Goethe! (Ob er tatsächlich oder nur vermeintlich der größte deutsche Dichter ist, mag ich an dieser Stelle nicht entscheiden.) Dabei muss man ihm zugutehalten, dass Goethe die Arbeit an seinem Faust regelmäßig wiederaufnahm und seine Worte in die passende Form zu gießen versuchte. Da der Vielschreiber Goethe aber auch stets noch andere aus Tinte geformte Eisen im Feuer hatte, erkaltete das Eisen mit dem Namen Faust. Besonders sichtbar wird dies an dem „Der Tragödie Erster Teil“ vorangestellten Segment. Dessen erster Teil trägt den Titel „Zueignung“, über dessen ersten Satz wir heute reflektieren.

Chronik eines produktiven Prokrastinierens

Zuerst blicken wir jedoch auf die Chronik eines Werks, das auf Jahrzehnte hin der Vollendung harrte. Mit den Arbeiten an seinem Monumentalepos begann Goethe schon 1772 im Alter von 22 Jahren. Der sogenannte Urfaust ging aus dieser Arbeit hervor, in dem bereits die Grundidee der späteren Publikationen angelegt war. Das Publikationslicht der Welt erblickte der Urfaust erst 1887 – Goethe war da schon über ein halbes Jahrhundert tot. Den nächsten Schritt nahm Goethes Faust als ein Fragment mit dem selbigen Titel. Ausgangspunkt dieser erneuten Beschäftigung war des Dichters Italienreise, auf der er auch die zuvor begonnenen, jedoch nicht fertiggestellten Texte wieder in die Hand nahm. Denn der Faust war keineswegs ein Einzelphänomen, sondern nur eines von vielen Symptomen, das Goethes zweigleisiges Arbeiten als Künstler und als Staatsdiener zierten. Welch Ironie, dass die Arbeit am Fragment gebliebenen Urfaust ein weiteres Fragment nach sich zog! Die Arbeiten von 1788 mündeten immerhin in einer ersten Publikation des Fragments im Jahre 1790. Erst zwanzig Jahre später, also im Jahre 1808, konnte Goethe die Finger von seinem Gedankenkind lassen und entließ „Der Tragödie erster Teil“ in die Freiheit.

Die „Zueignung“ brachte Goethe schon 1797 zu Papier. Sie sehen, gut Ding braucht Weile. Die schwankenden Gestalten, in die geflügelten Worte gehüllt, die uns noch heute im Alltag begleiten, musste sich der Dichter erst neu beschauen, um zu wissen, was er mit ihnen anfangen sollte. Und das ist auch der richtige Ansatz: Wer schreiben will, muss schreiben. So banal diese Erkenntnis auch ist, aber eine Schreibblockade löst man nur, indem man die Feder aufs Papier setzt (oder in unseren Tagen in die Tasten haut). Auch lehrt uns Goethes Leidensweg, dass der Schreibprozess nicht immer von Erfolg gekrönt sein kann. So manches Mal müssen wir unsere Ideen anpassen, verwerfen und einen neuen Ansatz wagen. Die Arbeiten an Faust II schloss Goethe gar erst 1832 ab, kurz bevor er starb. Dranbleiben und durchhalten ist die Devise, die sich der Wahl-Weimarer schon zu Herzen nahm. Und wenn Sie mit einem Text mal nicht weiterkommen, machen Sie es doch ebenso wie Goethe: Prokrastinieren Sie produktiv, indem Sie etwas anderes schreiben!

Johann Wolfgang Goethe: Faust. Historisch-kritische Edition
Wallstein Verlag, 1370 Seiten
Preis: 224,00 Euro
ISBN: 978-3-8353-3335-2

Alternativ können Sie auch auf die historisch-kritische Edition im Netz zurückgreifen:
http://faustedition.net/

2 Gedanken zu „Aller Anfang ist schwer (3): Faust

  1. Dieses stückweise Schreiben, oder auch abbrechen, dürfte recht typisch sein, für eine Zeit, da Schreiben noch weniger Profession als a) Lebensaufgabe, aber b) auch nur ein Teil eines Lebens, in dem man vielfältig wirken zu können glaubte, war.
    Einerseits stellt man ein Werk dann eben nicht als “Content” fertig, wenn es nicht genau das ausdrückt, was man zu sagen müssen glaubt. Andererseits gibt es halt tatsächlich dann auch wichtigeres, wenn man sein Ideal abseits der Literatur besser befördern kann.

  2. Pingback: Faust verstehen lernen | literaturundfeuilleton

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