Er galt als der kirgisische Nationaldichter, sein Vater wurde während der stalinistischen „Säuberungen“ wegen „bürgerlichem Nationalismus“ hingerichtet, er selbst schrieb für die Parteizeitung Prawda und wurde schließlich Botschafter Kirgisistans in Frankreich. Wer war dieser divergente Mann? Wer war der Schriftsteller Tschingis Aitmatow, der am 10. Juni 2008 in Nürnberg starb?
von ALINA WOLSKI
Bekannt geworden ist Tschingis Aitmatow mit seiner Novelle Dschamilja. Mithin wird sie als die schönste Liebesgeschichte der Welt bezeichnet, schöner noch als Shakespeares Romeo und Julia. Darin lässt er seinen Protagonisten die Geschichte der schönen Dschamilja erzählen, die mit einem Mann verheiratet wird, den sie nicht liebt. Als dieser in den Krieg zieht, lernt sie den stillen, vom Krieg traumatisierten Danijar kennen, verliebt sich in ihn, die beiden verlassen ihre Familien und ziehen davon. In ihrer kirgisischen Kultur ein Eklat, denn die Familie ist alles. Die Novelle erzählt die Geschichte von Krieg, Stärke, Einsamkeit, der Schönheit der Kunst und der Suche nach einem Leben im Einklang mit sich selbst. Doch was sie zu der vermeintlich schönsten Liebesgeschichte der Welt machen soll, ist eine gute Frage. Allenfalls kann diese Aussage zutreffen, sofern mit der Liebe nicht die Liebe zu einer Person gemeint ist, sondern die zu der Welt, zur Vollkommenheit, der Perfektion.
Der Literat Aitmatow
Lesenswert ist Dschamilja dennoch allemal, wird darin schließlich eine Perspektive auf den Krieg dargestellt, die sich in Westeuropa bislang nur selten finden lässt. Es geht um das Individuum, das durch ein unvorstellbar großes, bedrückendes Ereignis aus seiner Gesellschaft, aus seiner Rolle geworfen wird. Und der Krieg erscheint gleichzeitig unglaublich fern und doch so nah. Er greift auf unbegreifliche Weise in das urtümliche Leben in der nahezu unberührten kirgisischen Natur ein. Dabei liegt der Novelle ein ganz eigentümlicher Klang inne, einer, der beispielsweise bei dem kasachischen Nationaldichter Abai nicht zu finden ist. Ein lohnenswerter Einblick in die kirgisische Gesellschaft und Literatur also.
Ganz seinem Credo entsprechend, „das Wort verkümmert und stirbt, wenn wir es nicht mit anderen teilen,“ erzählt Aitmatow seine Geschichten, die oft auf Volksmärchen, Epen, Liedern und eigenen Erlebnissen beruhen. So teilt er die kirgisische Kultur mit seiner internationalen Leserschaft – dank Übersetzung seiner Werke in 150 Sprachen. Zuletzt präsentierte er diesen Facettenreichtum der zentralasiatischen Kulturen in Der Schneeleopard, der 2007 ins Deutsche übersetzt wurde. Korinna Hennings Wertung ist nichts hinzuzufügen: „Der Schneeleopard ist kein leichtgängiges Buch – aber ein fürchterlich ergreifendes. Es ist geschrieben in einer Sprache wie aus altem Samt, es ist die Geschichte von Legenden und Fabeln, die zusammen erzählt wieder neue Legenden und Fabeln ergeben. Aitmatow schafft es, die Tradition der Legendenerzählung hinüberzuretten in eine moderne Alltagswelt des 21. Jahrhunderts. Einmal mehr wird klar: Ihn einen Schriftsteller zu nennen, wäre eine Beleidigung. Der Mann ist ein Dichter.“
Der Politiker Aitmatow
Dabei schrieb Aitmatow von Beginn an in russischer Sprache. Als er 1928 im Norden Kirgisistans in ein Nomadenvolk hineingeboren wurde, war die kirgisische Schriftsprache erst vier Jahre alt. Obwohl er in seiner Kindheit sehr eng mit der kirgisischen Kultur verbunden aufwuchs, führten ihn politische Gründe als auch sein Studium immer wieder für längere Zeit nach Russland. Doch nicht nur die Literatur sah er als seine Berufung, auch der Politik widmete er sich. Er engagierte sich als Abgeordneter des obersten Sowjets, als Mitglied des Volksdeputiertenkongresses der UdSSR, in Gorbatschows Präsidialrat und schließlich als Botschafter der UdSSR, bevor er für Kirgisistan als diplomatischer Vertreter nach Frankreich ging. 2000 wurde Aitmatow in einer Umfrage in Kirgisistan zum drittpopulärsten Politiker ernannt. Gemeinsam mit seiner Sowjetvergangenheit führt das dazu, dass er nicht vollständig ohne seinen politischen Hintergrund bewertet werden kann. Doch darf aus eben diesem Grund nicht unerwähnt bleiben, dass Dschamilja nach Veröffentlichung von der Parteiführung für die Rebellion gegen die gesellschaftlichen Bande stark kritisiert wurde.
Trotz seiner politischen, umstrittenen Rolle sind Aitmatows Werke eine großartige Fundgrube für all jene, die sich literarisch auf Reisen in das frühere Kirgisistan zu Nationalepen, endlosen Feldern, Nomadenvölkern und der Sehnsucht nach dem Glück begeben möchten.
Tschingis Aitmatow: Dschamilja. Aus dem Russischen von Hartmut Herboth
Unionsverlag, 124 Seiten
Preis: 5,50 Euro
ISBN: 9783293205000
Tschingis Aitmatow: Der Schneeleopard. Aus dem Russischen von Friedrich Hitzer
Unionsverlag, 320 Seiten
Preis: 13,95 Euro
ISBN: 978-3293003705