In der lesBar mit Werner Herzog und fruchtsüßem Kabi

Kino Werner Herzig Fitzcarraldo Klaus Kinski
Foto: Unsplash

Ein Kinokonflikt, eine Kinolösung, eine große Kinofrage, eine Liste der kollektiven Verachtung, eine beglückende Freiheitsberaubung, ein deutscher Klassiker mit Überlänge, eine künstlerisch-masochistische Erkenntnis, ein Plädoyer für die Langeweile, ein süßer Allround-Begleiter und eine Gebrauchsanweisung für dessen Einsatz. Herzlich willkommen zum Kinoabend in der lesBar!

von NICK PULINA

Servus in die Runde,

ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie viel Konfliktpotenzial ein schnöder Kinobesuch mit sich bringt? Ja, die Frage nach der Filmauswahl ist der bekannteste Reibepunkt, doch danach eröffnen sich bereits die nächsten Scheidewege: 

A möchte lieber hinten sitzen, er bekäme sonst eine Genickstarre, außerdem sei es da vorn ja auch viel zu laut. B hingegen würde sich am liebsten direkt vor die Leinwand legen, dort habe der Film einfach eine größere immersive Kraft. 

Man einigt sich schlussendlich auf einen Mittelplatz, jedoch nicht ohne dass A während des gesamten Films auffällig überbordend seinen Kopf in die Schultern legt und seufzend kreisen lässt, während B immer wieder provokante Fragen zum Film stellt, sie habe da nämlich von so weit weg gerade etwas nicht richtig erkennen können. 

Wenn sich A dann auch noch eine Tüte Popcorn (selbstverständlich gemischt, aber bitte nicht sagen, was oben ist, er will sich überraschen lassen) einverleibt, obwohl B, wenn schon nicht die volle Bildgewalt, so zumindest den grandios austarierten Ultra-8K-HiFi-Sourround-Sound im mittleren Saal genießen will, hätte man auch einfach zu Hause bleiben können.

Und tatsächlich schnappte ich kürzlich genau diese Aussage auf einer Party auf: Bei der rasanten Entwicklung im Bereich der Heimkinosysteme sei es ja gar nicht mehr zeitgemäß, für viel Geld ins Kino zu gehen. Zu Hause könne man wenigstens mit einiger Sicherheit der Dummheit der anderen Kinobesucher:innen aus dem Weg gehen…

Kurzer Exkurs: Die 7 meistgehassten Menschen im Kino
1. Der „Während der Werbung kann ich Ilse ja noch eben auf Betriebslautstärke erzählen, dass Walther es neuerdings mit dem Darm hat“-Mensch

2. Der „Ich komme während der Trailer, ziehe mir aber ganz entspannt im Stehen die Jacke aus, denn den Bums will ja eh keiner sehen“-Mensch (sitzt natürlich in den ersten Reihen)

3. Der „Ich stelle meiner Begleitung während des Films Fragen über die noch bevorstehende Plotline des Films“-Mensch

4. Der „Huch, meine Beine sind plötzlich so lang geworden, ich drücke sie meinem Vordersitz mal lieber in den Rücken, damit sie nicht noch weiter wachsen“-Mensch

5. Der „Ich gehe mal eben zur Toilette, würden Sie mich…Oh, das war der Popcorneimer, entschul…oh nein, die Cola…huch da wollte ich gar nicht hinfassen, aber…herrje, die Jacke“-Mensch

6. Der „Hahaha, der Jäger hat die Olle von dem kleinen Drecks-Reh erschossen, ich lache mich tot“-Mensch

7. Der „OH MEIN GOTT WIE KRASS!!! ICH MUSS DA GLEICH EIN SNAP VON AN SHANIAH UND MIRA SCHICKEN, ICH KOMM NICHT KLAR UND HABE MEIN HANDYDISPLAY AUF VOLLER HELLIGKEIT, BEI DER DUNKELHEIT SEHE ICH JA NICHTS“-Mensch

…und selbst bestimmen, was man wann sehen wolle. Auch auf Pause drücken wäre ja so kein Problem mehr. Soweit zur Theorie. 

Ich widerspreche inbrünstig, gehöre zugegebenermaßen allerdings auch einem der sieben Typen an (welcher es ist, müssen Sie schon selbst herausfinden), aber: Es ist eine andere Aktivität einen Film im Kino oder zu Hause zu schauen. Selbst wer einen eigenen Kinosaal im Keller hat, erlebt dort einen Film gänzlich anders als im öffentlichen Kino. 

Sie erwarten jetzt wahrscheinlich romantisierte Sprachbilder über Menschen, die hübsch angezogen gemeinsam ins Kino pilgern, um den neuen James Bond zu gucken, die das Ganze als Happening ansehen, das Licht geht aus, die Spannung steigt, vielleicht knutscht man ein bisschen, bla bla bla, Sie kennen das. Ja. Auch. Aber, und das ist nun ganz weit weg von romantisierter Euphorie, der größte Vorteil des Filmgenusses im Kino ist: Sie kommen da so leicht nicht wieder raus.

Also natürlich können Sie aufstehen und gehen, aber in Anbetracht des gezahlten Eintrittsgeldes, der sozialen Schmähung für Störer:innen und der investierten Zeit bleiben Sie höchstwahrscheinlich sitzen, selbst wenn Sie vor Langeweile schon die Falten im Vorhang oder die Locken in der Frisur Ihrer Sitznachbarin zählen. Und ist das nicht wunderbar?

Nicht nur, dass es niemandem schaden kann, mal wieder Langeweile-Aushalten zu üben – wer kann das heute schon noch, im Zweifel wird eben ein Blick auf Twitter, Onlyfans oder 9Gag geworfen –, sondern auch wegen mancher Filme, die Geduld und Durchhaltevermögen einfordern, sich dann dafür aber auch umfänglich bedanken und erkenntlich zeigen.

So saß ich kürzlich im Kino meines Vertrauens und war hocherfreut darüber, einmal den großen Herzog-Kinski-Streifen Fitzcarraldo auf der Kinoleinwand sehen zu können. Und Herrschaftszeiten, hat sich diese Freude schnell gewandelt. Da guckt man einem kolonialisierenden Eumel mit Hang zu relativer Grenzdebilität und pathologischem Kunstfetischismus dabei zu, wie er ein Bötchen kaufen will. Na servas! Es dauert sage und schreibe 45 Minuten, bis die Exposition in den Hauptteil überleitet. Die Decke des Kinosaals wird übrigens von 439 weißen Sternchen auf blauem Grund geziert.

Doch siehe da: Der Film bekommt Schwung, er wird spannend, packend, hochgradigst künstlerisch-metaphorisch. Dieser Film ist einfach großartig – als die erste Dreiviertelstunde überstanden ist.

Was sagt uns das? Klar, der Gedanke, dem inzwischen 79-jährigen Regisseur ein Postkärtchen à la „Sehr geehrter Herr Herzog, KÜRZEN SIE IHREN VERDAMMTEN FILM, Vielen Dank und freundliche Grüße“ zu schicken, liegt nahe. Heute, genau 40 Jahre nach der Premiere von Fitzcarraldo, hätte er das sicherlich getan. Die Sehgewohnheiten haben sich verändert, es muss etwas passieren, möglichst viel in möglichst kurzer Zeit. Und das ist in Ordnung, die Welt hat sich weitergedreht. Umso schwerer fällt es uns zum Teil, die großen Meisterwerke des letzten Jahrhunderts noch immer genießen zu können. Aber seien wir mal ehrlich: Hätte ich den Film zu Hause geschaut, hätte ich nach spätestens 15 Minuten mein Handy gezückt und nebenbei Candy Crush gespielt, Pause gedrückt, nebenbei gekocht oder was auch immer. Und das ist auch für sich genommen mehr als nachvollziehbar, warum quälen, wenn ich meine Zeit ‚sinnvoller‘ nutzen kann? Doch das hätte der Film, das Kunstwerk Fitzcarraldo, nicht verdient. Und das gilt für viele Filme. 

Selbst einer der bewegendsten und aufrüttelndsten Streifen über die Schrecken des Holocaust, Schindlers Liste, hat eine Exposition, bei der ich mir gern mit einer Pinzette die Armhaare auszupfen will, um irgendetwas zu tun zu haben. Aber im Kino bin ich gebannt und in gewisser Weise gefangen, lasse mich auf den Film ein, weil mir nichts anderes übrig bleibt, und bin im Anschluss höchst dankbar für die zwangsfokussierende Wirkung des Lichtspielhauses. 

Ist die Faustregel also: Je langsamer der Film erzählt, desto eher sollte ich ihn im Kino gucken? Ich meine ja, zumindest beim ersten Mal oder wenn ich ihn wirklich als das Kunstwerk erleben möchte, als das er wahrgenommen werden will. Und auch die langsamen Meisterwerke der letzten Jahre, Nomadland, Call me by your name oder Boyhood sind nur einige wenige Beispiele, die es verdienen, in ihrer unaufgeregten und langsamen Erzählweise wahrgenommen und wertgeschätzt zu werden.

Wer einen unaufgeregten, aber großartigen Film genießen will, trinkt dazu am besten einen nicht allzu ablenkenden Wein. Greifen Sie – ja, auch wir Trocken-Trinker – doch mal zu einem fruchtsüßen Riesling Kabinett aus Deutschland. Kabis, wie diese Art des Weins unter seinen Jünger:innen genannt wird, liegen nicht nur voll im Trend und sind trinkig wie kaum ein alkoholisches Getränk, sondern haben bei guter Arbeit der Winzer:innen oft die Eigenschaft, bei vermeintlicher Oberflächlichkeit eine ungeahnte Tiefe mitzubringen, ohne überkomplex zu sein. Ich könnte das Zeug trinken wie Wasser, tue es hie und da auch mal und möchte mich gar nicht auf eine einzelne Empfehlung beschränken. Probieren Sie etwas von diesen fünf oder doch den, der im Regal daneben liegt oder einen, von dem Sie noch nie gehört haben. Kabis machen so gut wie immer Spaß, manche brauchen vielleicht einfach nur etwas Zeit, Konzentration und Aufmerksamkeit.

  1. Caroline Diel: 2019 Riesling Kabinett Goldloch Große Lage (Nahe)
  2. Carl Ehrhard: 2019 Berg Roseneck Riesling Kabinett (Rheingau)
  3. Kilian Franzen: 2021 Bremmer Calmont Riesling Kabinett (Mosel)
  4. von Hövel: 2010 Scharzhofberg Riesling Kabinett (Mosel/Saar)
  5. Peter Jakob Kühn: 2020 Lenchen Riesling Kabinett (Rheingau)

Cheers,

Ihr

Nick Pulina

PS: Kabi ist nicht gleich Kabi. Versuchen Sie doch mal, die Unterschiede zwischen den Regionen oder Jahrgängen herauszuschmecken. Spannender als das erste Drittel vieler Filme!

PPS: Geben Sie es zu, zu einem der sieben Typen verhasster Kinogänger:innen können Sie sich doch auch hin und wieder zählen!

PPPS: Durch welchen Film haben Sie sich quälen müssen, nur um ihn danach doch genial zu finden? Schreiben Sie ihn mir @culinanick bei Instagram.

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