Zu den Sternen (к звездам)

Ein Bild der russischen Futuristen aus dem Jahre 1912. Sitzend (v. l. n. r.): Velimir Chlebnikov, G. L. Kuzmin, S. D. Dolinsky. Stehend: N. D. Burljuk, D. D. Burljuk und Wladimir Majakowski.

Zurück in die Zukunft, Teil 2: Wie schon letzte Woche in unserem Podcast werfen wir einen Blick in die Vergangenheit – und damit über Umwege in die Zukunft – und erinnern an den 100. Todestag des russischen Futurismus-Vordenkers Velimir Chlebnikov. Mit seinem Versuch einer universalen „Sternensprache“ beeinflusst Chlebnikov nachhaltig die russische Literatursprache. Treten Sie ein in die Welt des russischen Futurismus.

von THOMAS STÖCK

Keine 37 Jahre wird er alt, der große Neuerer der russischen Literatursprache. Nördlich des Kaspischen Meeres im heutigen Kalmückien wird Velimir Chlebnikov 1885 geboren, in einer schwach besiedelten Region. Seine Studien der Mathematik und Naturwissenschaften, später auch des Sanskrits und der Slawistik führen ihn erst nach Kasan, dann nach Sankt Petersburg. Schon 1909 gerät Chlebnikov in Kontakt mit avantgardistischen Künstlerkreisen – und ab 1912 wird er selbst Vordenker der bedeutendsten Stilrichtung in seinem Heimatland rund um die Epoche des Ersten Weltkriegs und des sich anschließenden russischen Bürgerkriegs: dem russischen Futurismus.

Auf materielle Güter verzichtet der häufig ohne festen Wohnsitz lebende Chlebnikov weitestgehend. Wie bei vielen seiner durch den Anarchismus geprägten Kollegen finden sich auch in seinem Werk gesellschaftsumstürzlerische Forderungen. Und auch hinsichtlich des italienischen Futurismus, des literarhistorischen Vorläufers des russischen Futurismus, bemüht sich Chlebnikov um eine neue Herangehensweise. Während sich die Italiener von anderen Kunstrichtungen wie dem Impressionismus und dem Symbolismus abzugrenzen suchen, knüpfen die russischen Futuristen bewusst an den Symbolismus an. Angesichts dieser Tatsache mag es wenig verwundern, dass sich Italiener und Russen auch politisch in entgegengesetzte Richtungen entwickeln: Die russischen Futuristen gehen auf in der sowjetischen Kultur, die italienischen Futuristen um Filippo Tommaso Marinetti biedern sich dem italienischen Faschismus unter Benito Mussolini an.

Manifeste, Neologismen, Silben-Symbole: Chlebnikovs Sprachwelt

Die Parallelen der beiden Futurismen liegen dennoch auf der Hand. Hier wie dort steht am Anfang ein Manifest. Im Falle der Russen handelt es sich um Velimir Chlebnikovs Eine Ohrfeige dem öffentlichen Geschmack, in dem er fordert:

„Wascht Eure Hände, die den schmutzigen Schleim der von diesen zahllosen Leonid Andrejevs geschriebenen Bücher berührt haben. All diese Maksim Gorkijs, Kuprins, Bloks, Sollogubs, Remizovs, Averčenkos, Čornyjs, Kumzins, Bunins usw. usw. – sie brauchen nur noch eine Datscha am Fluß. Eine solche Belohnung schenkt das Schicksal Schneidern.“

Für sich und seinesgleichen fordert er die Rechte der Dichter ein, deren oberste Devise die Wortneuerung ist – wie schon bei den italienischen Futuristen die parole in libertà, die Worte in Freiheit.

Über deren Sprachexperimente geht Chlebnikov jedoch hinaus, wenn er Silben zu Symbolen werden lässt, wie etwa im Gedicht des kopfes glockengeglocke: „okopf. / umkopf. / beikopf, / pakopf. / abkopf mir / und den unbekannten allein.“ Augenscheinlich ohne eine Handlungslogik kommen sowohl seine Lyrik als auch seine erzählende Prosa aus. In beiden Fällen treffen seine Beschäftigungen mit der Mathematik und exotischen Sprachen wie dem Sanskrit aufeinander, sodass seine Texte von einer seriellen und assoziativen Logik gekennzeichnet sind, in denen oftmals Fragmente anderer, in manchen Fällen längst nicht mehr gesprochener oder gar nie existenter Sprachen Eingang finden. Auch inhaltlich nähert sich Chlebnikov diesen mythischen Welten an, in denen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenfallen – oder vielmehr gar nicht mehr zu existieren scheinen. Seine Sprachexperimente führten ihn zur Kreierung der sogenannten „Sternensprache“, einer Universalsprache, die die Völker verbinden sollte. Gemeinsam mit seinem Dichterkollegen Aleksei Krutschonych kreierte er deshalb die Kunstsprache Zaum. Sein Griff nach den Sternen heimste Chlebnikov neben dem Nachruhm als futuristischem Vordenker immerhin auch die Namensgebung eines Asteroiden ein: Passenderweise trifft hier die naturwissenschaftliche Zahlenlogik auf den Namen Velimir, dessen Name nun mit den Sternen verquickt ist, wie es bereits seine Feder war.

Meine Empfehlung:

Velimir Chlebnikov: Werke. Herausgegeben von Peter Urban. Mit einem Nachwort von Marie Luise Knott und zahlreichen Abbildungen
Suhrkamp Verlag, 1152 Seiten
Preis: 68,00 Euro
ISBN: 978-3-518-43049-1
Geplante Veröffentlichung: 15.08.2022

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