Aller Anfang ist schwer (4): Verlassen

Tahar Ben Jelloun: Verlassen; Cover: Berlin Verlag

Europa –  einst ein Ort, an dem Vertreibung und Verfolgung stattfand, ein Ort, der Fluchtbewegungen auslöste – ist heute eine wichtige Zielregion transkontinentaler Fluchtbewegungen. Spätestens seit der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Jahr 2015 ist der Diskurs über Flucht und Migration nicht mehr wegzudenken. Dennoch sind flüchtende Menschen keinesfalls ein Phänomen der Neuzeit. Auch die Flucht über das Meer ist historisch gesehen ein verbreitetes Phänomen. Doch das einen neuen Ort erreichen, auch einen anderen Ort verlassen heißt, erzählt Tahar Ben Jelloun mit seinem Roman Verlassen.

von ALINA BRAUCKS

„In Tanger verwandelt sich das Café Hafa im Winter in ein Observatorium der Träume und ihrer Folgen.“

Sitzt man auf der Terasse des Café Hafas in der marokkanischen Hafenstadt Tanger, sind es bloß 14 Kilometer Luftlinie bis zum spanischen Festland. Bei gutem Wetter kann man über das Meer hinausblicken und in der Ferne die spanische Küste sehen. Fast friedlich liegt das Wasser da. Doch das Mittelmeer ist die gefährlichste und tödlichste Fluchtroute der aktuellen und vergangenen Fluchtbewegungen nach Europa. Nichtsdestotrotz erreichen jedes Jahr tausende Menschen Europa über das Mittelmeer: Im Jahr 2015 waren es rund eine Million Menschen, die die Küsten Europas erreichten. Auch wenn die Ankünfte über die Mittelmeerroute seit 2016 stark gesunken sind, kamen im Jahr 2020 – trotz Corona-Pandemie – 86.649 Menschen über die Mittelmeerrouten nach Europa. Doch nicht alle überleben die gefährliche Überfahrt, sodass das Mittelmeer schon seit einigen Jahren als „Europas Massengrab“ bezeichnet wird. Knapp 2.000 Menschen, die sich zu einer Flucht über das Meer gezwungen sahen, wurden im letzten Jahr für tot oder vermisst erklärt.

Die niederländische NGO UNITED geht davon aus, dass zwischen Mitte 1995 und 2014 über 10.000 Menschen an den Grenzen Europas ertrunken sind. Die deutsche NGO Pro Asyl berichtet, dass seit dem Jahr 2000 über 35.000 Menschen an den europäischen Außengrenzen ums Leben gekommen sind. Es kann allerdings davon ausgegangen werden, dass die Dunkelziffer der Menschen, die ihr Leben auf der Flucht lassen, um einiges höher ist. Der Schriftsteller Navid Kermani erklärte am 14. Oktober 2005 in seiner Festrede zur Feier des 50. Jahrestages der Wiedereröffnung des Wiener Burgtheaters nach dem Zweiten Weltkrieg, dass unter der Prämisse „daß nur jede dritte Leiche gefunden und registriert wird, […] allein im Umkreis der Meerenge von Gibraltar in den letzten fünfzehn Jahren dreizehn- bis fünfzehntausend Flüchtlinge gestorben“ seien. Die Meerenge von Gibraltar, auch westliche Mittelmeerroute genannt, wurde um die Jahrtausendwende besonders von flüchtenden Menschen aus Marokko genutzt. An ihrer geringsten Breite ist sie nur 14 Kilometer breit, sodass bei gutem Wetter die spanische Küste von Marokko aus zu sehen ist. 14 Kilometer und das Ziel in Sicht: Unter diesen Umständen erscheint es nachvollziehbar, dass die Risiken der Flucht oft nicht realistisch eingeschätzt werden. Die Kontrollen der Meerenge werden allerdings immer wieder verschärft und so müssen viele Flüchtende auf riskantere Routen ausweichen. Aufgrund der unvorhersehbaren Wetterbedingungen auf dem Atlantik, der in der Meerenge von Gibraltar auf das Mittelmeer trifft, ist die Route in Richtung der kanarischen Inseln besonders gefährlich.

Der Reporter Wolfgang Bauer leitet im Jahr 2014 seinen Bericht über die Flucht von Ägypten über das Mittelmeer mit folgenden Worten ein: „Das Mittelmeer ist die Geburtsstätte Europas und mittlerweile Schauplatz seines größten Versagens.“ Diese Aussage kann so unterschrieben werden. Tragische Unfälle auf hoher See und Schiffbruch gibt es zwar bereits so lang wie die Schifffahrt selbst, in deren Geschichte war das Ertrinken von Menschen allerdings nie so einfach zu verhindern wie heute: Es gibt im gesamten Mittelmeer genug Rettungs- und Patrouillenboote, selbst die Boote der Flüchtenden sind häufig mit einem Satellitentelefon ausgestattet, um Hilfe anzufordern. Es gibt Seenotrettungsstellen entlang der europäischen Küste, Helikopter können für Rettungsmissionen eingesetzt werden und per GPS-Signal lassen sich viele in Seenot geratenen Boote orten.

Urlaubsziel für die Einen, tödliche Grenze für die Anderen

Es ist irgendwie skurril, während Europäer:innen zur Feirenzeit an die Mittelmeerstrände stürmen um Baden zu gehen, fahren auf der anderen Mittelmeerseite Boote los und hoffen, dass sie ankommen. Man ist am gleichen Ort, der für die einen ein Urlaubsort ist und für die anderen eine tödliche Grenze. Dr. Julia Schulze Wessel gibt hierfür ein Gedankenexperiment: Man stelle sich vor, man ist auf einem Kreuzfahrtschiff auf dem Mittelmeer und daneben fährt ein mit undokumentierten Migranten beladenes Fischerboot. Man ist geografisch am gleichen Ort. Aber man ist in vollkommen unterschiedlichen, nicht kompatiblen Räumen angesiedelt. Diesen Grenzraum kann der Tourist nicht betreten. „Während für die einen die Grenze niemals sichtbar ist, ist die Grenze für die Anderen permanent da.“

Diese Grenze ist auch sichtbar für die Marokkaner:innen in Tahar Ben Jellouns Roman Verlassen (Orig. Partir, 2006). Sichtbar jeden Tag, den sie im Café Hafa sitzend verbringen und auf die Straße von Gibraltar blicken, während sich Spaniens Küste am Horizont erstreckt. Mit dem Blick auf die spanische Küste geheftet wirkt die Meerenge wie ein überwindbarer Raum. Doch die Gefahr, die dieser Grenzraum birgt, wird von den Romanfiguren nicht unterschätzt:

„Sie haben ihr [der Meerenge, A. B.] den Spitznamen Toutia gegeben. Dieses Wort hat keine Bedeutung, doch sie alle wissen, dass es die Spinne ist, die mal Menschenfleisch verspeist und mal Wohltäterin ist, wenn sie ihnen als Stimme zuflüstert, dass diese Nacht nicht die richtige ist und sie die Reise auf ein anderes Mal verschieben müssen.“

Das Meer demonstriert nicht bloß die Gefahren der Flucht. Für die Menschen im Café Hafa ist das Meer auch eine Art Projektionsfläche für ihre Träume und Vorstellungen an ein Leben in Europa. Diese gleiten über das Meer dahin, während sie in der Ferne die europäischen Küsten sehen. Ben Jelloun gestaltet seinen Grenzraum als Ort der Träume und des Schreckens zugleich. Die Doppeldeutigkeit der Flucht über das Meer zeigt sich bereits im Eingangssatz des Romans.

Der Protagonist Azel, ein arbeitloser Juraabsolvent, hat gerade sein Geld an einen Schlepper verloren, der die Fahrt über das Meer nach Europa doch abgesagt hat. Azel wollte mit einem Boot die Meerenge überqueren, obwohl sein Vetter kurz zuvor bei dem Versuch – wie viele andere –  ertrunken ist. Azels letzte Chance zur Flucht aus Marokko kommt in Gestalt des spanischen Kunstgaleristen Miguel in sein Leben, der sich in Azel verliebt und ihn mit nach Spanien nehmen möchte. Azel folgt Miguel mit einem Urlaubsvisum nach Barcelona, muss dafür jedoch als Miguels Bettgenosse herhalten. Nach einiger Zeit wird dieser immer unzufriedener mit Azel, der sich in Miguels Nähe zunehmend unwohl fühlt und sich mit marokkanischen Prostituierten trifft, bis Miguel ihn vor die Tür setzt. So läuft Azels Urlaubsvisum aus und er befindet sich als „illegaler“ Migrant in Spanien. Nun ist Azels Traum nach Europa zu gelangen zwar in Erfüllung gegangen, doch sieht er sich jetzt mit den Folgen seines Traums konfrontiert. Denn Azel muss feststellen: Die Grenzüberquerung ist vielleicht der lebensbedrohlichste Teil, aber damit ist die Flucht noch lange nicht vorbei.

Währenddessen sitzen die Menschen immer noch im Café Hafa und betrachten die Meerenge, träumen vor sich hin, erfahren von Menschen, die die Überfahrt nicht geschafft haben, warten, dass die Wellen „ihnen das Lied der Ertrunkenen, der zum Seestern über der Meerenge wurde, vorsingen“, hören von Menschen die es nach Europa geschafft haben, aber wieder zurückkehren. Und hören von Menschen die erfolgreich geflohen sind, aber dann an ihren Träumen gescheitert sind.

Tahar Ben Jelloun: Verlassen. Aus dem Französischen von Christiane Kayser

Berlin Verlag, 265 Seiten

Preis: 11,80 Euro

ISBN: 978-38270065

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