1 000. Beitragsjubiläum: Was wir lesen müssen

Wer das nur alles lesen soll? Ein Berg aus Büchern – der Walk of Ideas in Berlin. Copyright Lienhard Schulz.

Seit 2011 werden auf literaturundfeuilleton Beiträge veröffentlicht. Unser heutiger Beitrag behandelt zur Feier unseres tausendsten Beitrags eine Frage, die uns als begeisterte Bücherleser stets umtreibt: Welche Bücher muss ich unbedingt gelesen haben? Antworten darauf liefern die unzähligen Kanons, von denen wir uns heute einige der letzten Jahrzehnte anschauen möchten.

von THOMAS STÖCK

Wenn Sie sich das nächste Mal nach der Lektüre eines Buchs denken: „Das war aber unter aller Kanone. So ein schlechtes Buch!“, dann dürfen Sie sich fortan zu dem illustren Reigen an Literaturkritikern zählen, die ein Buch aus dem Kreise der kanonischen Werke verbannt haben. Denn tatsächlich leitet sich die Kanone in der oben genannten Redewendung von der lateinischen Redewendung sub omni canonibus ab und bedeutet da „unterhalb jedes Maßstabs“ – ein Werturteil, das Sie im Übrigen auch unter Ihrer Dissertation finden könnten. Ich drücke die Daumen, dass das nicht passieren wird. Das lateinische Wort canon in der oben genannten Redewendung hat seinen Ursprung im griechischen κανών. Und dieses Wort wiederum vereint eine Vielzahl an Bedeutungen unter seinem Namen, zu denen laut Duden „Leitfaden, Richtschnur, Maßstab, Mustergültiges, Regel, Regelwerk, Gesetz“ sowie „Maßgebendes“ zählen.

Auf die Literatur übertragen präsentiert sich der Kanon gemäß des Handbuchs Grundbegriffe der Literaturwissenschaft als „Auswahl der von einer best[immten] Gruppe für eine best[immte] Zeit […] jeweils als wesentlich, normsetzend, zeitüberdauernd, ‚klassisch‘ […] erachteten [K]ünstler“. Wesentlich, normsetzend, zeitüberdauernd, klassisch. So kann also ein Kanon funktionieren, wenn man ihn unter literaturwissenschaftlichen Wertmaßstäben formuliert. Doch was versteht man unter Formulierungen wie wesentlich oder klassisch? Welche Normen werden zu Rate gezogen, um Werke aburteilen zu können? Wie stellt man einen zeitüberdauernden Charakter von Literatur fest? Mit diesen Fragen wollen wir uns im Folgenden anhand einiger Beispiele eingehender beschäftigen.

Wohin uns die Reise führt

Wir beginnen unsere Reise mit dem Buch der 1000 Bücher, welches von Joachim Kaiser herausgegeben wurde und laut Untertitel „Werke, die die Welt bewegten“ auf seinen Seiten präsentiert. Spricht man im deutschsprachigen Raum über Kanon, darf natürlich einer nicht fehlen: Marcel Reich-Ranicki. In bewusst provokanter Art präsentiert Reich-Ranicki nicht einen, sondern gleich den Kanon. Und wenn wir schon von Provokation reden, darf natürlich ein weiterer Grande der Feuilleton-Gegenwart nicht fehlen: Denis Scheck und sein Projekt des Anti-Kanons. Denn auch was wir nicht lesen sollten, treibt uns um.

Sollten Sie mit den bisherigen Kanons nicht viel anfangen können, weil Ihnen die bisherigen Projekte nicht gefallen, möchten wir Ihnen auch ein paar schlagkräftige Argumente für Alternativen an die Hand geben. Sie mögen nicht den Kanon? Haben Sie es schon mal mit die Kanon versucht? Dabei handelt es sich um ein Gegenprojekt von insgesamt elf Autorinnen und Journalistinnen, die einen weiblichen Kanon sowohl für die Literatur als auch für andere Bereiche des Lebens etablieren. Ein weiteres Gegenprojekt zu klassischen Kanons à la Reich-Ranicki bietet Ilija Trojanows Artikel „Runter vom Montblanc“, in dem die eurozentristische (oder allzu häufig sogar gänzlich national geprägte) Herangehensweise an Kanonmodelle kritisiert wird. Um ein weiteres alternatives Kanonmodell möchte ich diese Liste ergänzen: Es handelt sich um eine literaturwissenschaftliche Arbeit unter dem Titel „Sentimentheken – Ansätze zu einem schwulen Kanon“ des Bochumer Komparatisten Marlon Brand auf dessen Blog booksaregayasfuck. Unseren Spaziergang durch die Kanonlandschaft beschließen wir mit einem weiteren Ausflug in die komparatistische Welt – und zwar in die der angehenden Literaturwissenschaftler. Diesen begegnen im Laufe ihres Studiums die so getauften „Paradigmen der Weltliteratur“. Die Reise beginnt.

1. Das Buch der 1000 Bücher (Joachim Kaiser)

Am Anfang war die Schrift. Schrift ist die notwendige Voraussetzung für Bücher. Am Anfang des Buchs der 1000 Bücher steht die Erkenntnis, dass aus der Schriftkultur seit Jahrtausenden Bücher entstanden sind. Da kann es nicht überraschen, dass die Zahl der Bücher „ins Unüberschaubare gewachsen“ ist. Auch verweist das Vorwort auf die vielen Werke, die wir namentlich, aber nicht inhaltlich kennen. Ein großes Problem? Nun, Das Buch der 1000 Bücher will genau da Abhilfe schaffen und als Nachschlagewerk fungieren. Ausdrücklich wird festgestellt, dass es sich nicht anmaßen wolle, „seinen Nutzern einen Lesekanon anzutragen“. Stattdessen wolle man eine „möglichst abgerundete Zusammenstellung von Werken aus allen Zeiten, Kulturen und Sprachgebieten“ zum Besten geben, welche „für Leser aus dem deutschsprachigen Raum zu Beginn des 21. Jahrhunderts relevant“ seien. Das Buch der 1000 Bücher will eine „Orientierung bieten, Basisinformationen vermitteln, bei der persönlichen Lektüreauswahl behilflich sein und im besten Falle auch zum Lesen der vorgestellten Werke anregen“. Sie merken schon, die Anspruchshaltung ist vergleichsweise gering. Klar, das Gesamtbild soll so ansprechend wie möglich sein, aber einen Kanon will man auf keinen Fall verfasst wissen!

Und was findet sich in diesem Buch? Werke verschiedenster Gattungen, von bekannten Autorinnen und Autoren ebenso wie von namenlosen Dichtern. Dabei werden die Texte selbst nicht gezeigt, sondern es wird über ihre Geschichte und Entstehung, ihren Inhalt und ihre Wirkung reflektiert. Die Reihenfolge der Texte ergibt sich aus einer alphabetischen Systematik. Doch wer wurde nun in diesen illustren Kreis aufgenommen? Ein weiteres Mal zieht das Vorwort den Schwanz ein vor etwaiger Kritik: Dass „die Entscheidung für oder gegen ein Werk im Einzelfall auch anders hätte ausfallen können“, verstehe sich von selbst. Nun gut, aber wie steht es mit der Mehrheit der Fälle? Wie versteht man die explizierte „Relevanz“ für die zeitgenössische deutschsprachige Leserschaft? Darüber hüllt sich Das Buch der 1000 Bücher in Schweigen.

2. Der Kanon (Marcel Reich-Ranicki)

Deutlich ehrlicher als Das Buch der 1000 Bücher kommt Marcel Reich-Ranickis Der Kanon daher. Denn hier steht bereits im Titel, dass es sich sehr wohl um einen – nun ja, eigentlich sogar um den – Kanon handeln soll. Dieser besteht aus den Unterabteilungen Romane, Erzählungen, Dramen, Gedichten, Essays sowie einem Hörkanon. Bei Letzterem handelt es sich eigentlich nur um die Vertonungen der Erzählungen. Der deutsche „Literaturpapst“ war natürlich auch abseits dieser Werkauswahl an Kanonisierungsprozessen beteiligt – besonders wirkmächtig waren aber wohl seine Verrisse. Schon zuvor schrieb Reich-Ranicki für den Spiegel, als MRR einen Leitartikel unter dem Thema „Was man lesen muss“. Sein Kanon-Projekt verfolgt einen anderen Ansatz als das Buch der 100 Bücher. Denn MRR lässt die Texte (abseits einer Autorenbiografie) für sich selbst sprechen.

Zudem richtet sich Der Kanon an einen etwas anders gearteten Adressatenkreis. Zwar spielt auch die deutsche Sprache eine maßgebliche Rolle, denn im Zentrum seines Interesses stehen Deutschlehrer und -schüler. So kommt es denn auch, dass lediglich deutschsprachige Texte Aufnahme in den Kanon fanden. Im Falle der Romane gingen – dem Umfang dieser Romane geschuldet – lediglich zwanzig Werke von 16 Autoren und einer Autorin (Anna Seghers hat es immerhin in den Band geschafft) in den Kanon ein. Es stellt sich nämlich nicht nur die Frage, wer das alles lesen soll, sondern eben auch die Frage: Wer soll das alles kaufen? Die Chance ist groß, dass man das eine oder andere Buch ohnehin schon im Schrank stehen hat.

Die eigentlichen Probleme dieses Kanonprojekts liegen aber ganz woanders: Der Kanon mag zwar für den Deutschunterricht etwas taugen, nicht aber für die geneigte Leseratte, die Werke unbeachtet ihrer sprachlichen Herkunft verschlingt. Und selbst für den Deutschunterricht lässt sich dieser Kanon nur mit Abstrichen gebrauchen: Wo sind denn eigentlich die Romane, die nach 1984 verfasst wurden? Hat nach Thomas Bernhard etwa das Schreiben in Deutschland aufgehört? Wie konnte es passieren, dass aus dem Kreise der deutschen Autorinnen nur Anna Seghers auf Reich-Ranickis Goldwaage für ausreichend schwer befunden wurde? Fragen über Fragen, die wir MRR leider nicht mehr stellen können.

3. Schecks Anti-Kanon (Denis Scheck)

Unter aller Kanone – so würde wohl auch Denis Scheck die Werke beschreiben, die er für seinen Anti-Kanon selektiert hat. Scheck steht Reich-Ranicki in vernichtenden und publikumswirksamen Urteilen in wenig nach, auch wenn der Glanz vergangener Literaturshows nicht mehr auf heutige Sendungen übertragbar ist. Eher berüchtigt denn berühmt ist Scheck für seine Serie Druckfrisch, bei der ein Gutteil der Spiegel-Bestsellerliste Monat für Monat auf dem Müll landet. Und auch für seine Serie Schecks Anti-Kanon ist sich der Literaturkritiker für nichts zu schade: Als gänzlich in weiß gekleidete, göttlich anmutende Instanz präsentiert er sich der Kamera. Die präsentierten Bücher gab Scheck in einer ersten Version der Sendung noch den digital eingeblendeten Flammen preis, als das aber für großes Unbehagen unter Zuschauern und Kritikerkollegen sorgte, verwandelte man die Bücher lieber in Kaninchen. Leider macht das die Serie auch nicht besser.

Denn noch immer lässt sich vortrefflich darüber räsonieren, warum ausgerechnet die ausgewählten Bücher den Anti-Kanon schmücken müssen. Warum steht Christa Wolfs Kassandra in einer Reihe mit Sebastian Fitzeks Passagier 23 und Adolf Hitlers Mein Kampf? Welchen Maßstab Denis Scheck auch immer zu Hilfe genommen hat, ein einheitliches Bild ergibt sich durch diese Sendung nicht.

4. Die Kanon (Sibylle Berg et al.)

Licht ins Dunkel der Kanondebatte bringt hingegen das nachfolgende Projekt: Die Kanon bezieht klare Kante gegenüber der „Bemühung vieler vornehmlich männlicher Menschen, per Ansagen, Listen und Systemen ein Geländer in die Welt zu bauen“, wie Sibylle Berg im Vorwort auf diekanon.org schreibt. Denn so ein Kanon klinge nach „in den Boden zementiert, allgemeingültig für Generationen“. Doch dieses „Experiment, die Welt durch Zuhilfenahme von Ordnungssystemen die [sic] vornehmlich männliche Geistesgrössen auflisten, zu einem freundlicheren und erfreulicheren Ort zu machen“, sei gescheitert. Es muss also etwas Neues her! Wobei neu eigentlich nicht ganz richtig ist, denn eigentlich kramen die Damen von Die Kanon nur die Werke derjenigen Frauen hervor, die bei den Kritikergranden (Marcel Reich-Ranicki, Sie sind gemeint!) durch das Raster fielen – und nicht nur da. Auch das Lesepublikum, welches sich nur allzu gern durch Kanonvorschläge anleiten lässt, schenkte diesen Autorinnen zu wenig Beachtung laut den Die Kanon-Organisatorinnen.

Die Kanon wäre ein schönes Projekt, für das ich mich begeistern könnte, wenn da nur nicht die mehr als dürftige Präsentation wäre. Nun gut, es geht Die Kanon nicht nur um Literatur, sondern auch um die Kategorien Kunst; Musik; Sport; Wissenschaft, Technik & Forschung; Theorie und Politik sowie Wirtschaft. Trotzdem ist es enttäuschend, dass die Autorinnen nur mit Namen, Bezeichnung ihrer Tätigkeit, Herkunftsland und einer stichwortartigen Zusammenfassung ihrer Leistung „honoriert“ werden. Die beteiligten Autorinnen, Journalistinnen und Wissenschaftlerinnen am Projekt werden zumindest in vollen Sätzen vorgestellt und wirken so bedeutender als die Frauen, deren Leistungen sie eigentlich in den Mittelpunkt des Interesses stellen wollen. Vielleicht sollten sie statt einer Liste ja auch einen Buchschuber herausbringen? 135 Einträge im Bereich Literatur versprächen zumindest eine reichhaltige Lektüre. So muss man leider festhalten, dass Die Kanon dem faulen Leser – und dazu zählen wohl Leser wie ich, die sich gerne von Kanons vorschreiben lassen, was sie zu lesen haben – nur wenig Lesefutter und umso mehr Recherchearbeit darbietet.

5. „Runter vom Montblanc“ (Ilija Trojanow)

Auch Ilija Trojanow drückt uns nicht einfach ein Buch (oder gleich mehrere in einem Schuber) in die Hand, das wir rauf- und runterlesen könnten. Seine Beobachtung zu Kanondebatten ist die folgende, dass zumindest einige Listen existieren, die schon deutlich diverser als das hier genannte MRR-Beispiel sind. Was hingegen auffällt – und ein allgemeines Problem der Literaturkritik ist –, ist das Verbleiben im nationalen Raum. Genannt wird das Beispiel einer Leserwahl in Frankreich aus dem Jahre 1999, bei der über die 50 wichtigsten Werke der Weltliteratur abgestimmte wurde. Auch hier fehlt die Geschlechterdiversität (nur Anne Frank schaffte es in die TOP 20), noch beängstigender hingegen ist die Beobachtung, dass es von der Südhalbkugel keine Person in die TOP 20 geschafft hat. Immerhin taucht auf Platz 33 Gabriel García Marquez auf. Der hat es auch auf eine vom BBC organisierte Liste unter dem Titel The 100 greatest novels of all time geschafft – auf Platz 76. Auch hier sind in den TOP 10 acht Briten (ohne Amerikaner), in den bestplatzierten 50 Werken tummeln sich 41 englischsprachige Bücher. Auch von den deutschsprachigen Granden, derer Reich-Ranicki immerhin 20 für seinen Romankanon beziffern konnte, findet sich nur einer auf Platz 49: Franz Kafka. Trojanows Fazit klingt ernüchternd: „Der Bauer liest, was er kennt. Und Gabriel García Marquez.“

Wer über Kanons spricht, der meint genau wie Reich-Ranicki eigentlich nur die Bücher, die im am vermeintlich nächsten stehen. Warum nochmal soll man im Deutschunterricht eigentlich keine Übersetzung lesen? Handelt es sich dabei etwa nicht um vollwertige Bücher? Natürlich ist das Quatsch. Der Mensch ist neugierig und will genauso wissen, was in nichtwestlichen Kulturen vor sich geht. Trojanow flüchtet sich ins Bergsteigen, um eine passende Metapher für seinen Kanonvorschlag zu haben: Man besteige ja schließlich auch die höchsten Berge der Erde bspw. im Himalaya und verbleibe nicht auf dem Montblanc. Warum sich also mit dem literarischen Montblanc zufriedengeben? Warum nicht auch Nagib Machfus, Chinua Achebe oder Salman Rushdie lesen? Wieso sind Amadou Hampâté Bâ, Assia Djebar und Wole Soyinka noch nicht Schullektüre? Natürlich könnten Ngugi wa Thiong’o und Nuruddin Farah Seite an Seite mit James Joyce und Robert Walser, Marcel Proust und Max Frisch existieren. Trojanow macht jedoch darauf aufmerksam, wie schwer es fällt, einzelne Werke und Autoren wieder den Fängen des Kanons zu entreißen. Was einmal drin ist, bleibt dort in der Regel auch. Und wer soll bitte noch mehr lesen?

6. „Sentimentheken – Ansätze zu einem schwulen Kanon“ (Marlon Brand)

Auch in der fachwissenschaftlichen Welt werden mit Vorliebe Fragen nach der Kanonbildung gestellt. Die Rezeption von Büchern, sei sie nun beeinflusst durch Kanons oder durch die Trägheit der Auseinandersetzung mit der eigenen Sprache geprägt, fasziniert auch die Wissenschaft. Wie in diesem Artikel bereits angeklungen und wie entgegen anderweitigen Behauptungen von Marcel Reich-Ranicki (Der Kanon) in der Komparatistik allgemein anerkannt, können Kanons nebeneinanderstehen und sich ergänzen. Man spricht von einer Kanonpluralität. Doch auch in dieser Pluralität ist das bereits genannte Problem beheimatet, dass gewisse Autoren von Rang und Namen ihre Probleme haben, die Listen der zu lesenden Werke zu befüllen. Häufig tritt ein umgekehrter Fall zur ergänzenden Ausführung Ilja Trojanows ein, nämlich dass sich die Kanons als unabhängig von Modellen des „alten weißen Manns“ und dessen kritischer Bestandsaufnahme sehen.

So kommt es mitunter vor, dass Gruppen, die nicht an die Normen der Mehrheitsgesellschaft angepasst leben, sich ihre eigenen Kanons zusammenstellen. Einen solchen Fall stellt auch das Masterarbeits-Projekt Sentimentheken dar. Dabei handelt es sich um ein von Didier Eribon neugeschöpftes Wort, welches sich aus dem Gefühl (Sentiment) und der Bibliothek zusammensetzt. Die Zielgruppe eines schwulen Kanons sind – wenig überraschend, könnte man meinen – schwule Leser. Diesen kann der Kanon bei der Neuerfindung des eigenen Selbst helfen. Zugleich erklärt der Verfasser der Masterarbeit über Sentimentheken Marlon Brand sehr gut, warum lesbische und queere Literatur nicht auch noch Eingang in einen schwulen Kanon finden. Selbst das Projekt eines schwulen Kanons ist nämlich bereits zu groß! Tatsächlich hat man es in der Beschäftigung mit schwuler Literatur auch wieder mit Einzelkanons zu tun, welche nur allzu häufig ebenfalls in der Nationalliteratur verhaftet bleiben. In der Masterarbeit werden aber auch verschiedene Stoßrichtungen von Kanonmodellen deutlich, die das Nebeneinander besser nachvollziehbar machen. Denn es ist keineswegs so, dass ein schwuler Kanon automatisch als Gegenkanon zur heteronormativen Kanonbildung stehen muss (auch wenn dies ebenfalls eine Funktion ist). Ein schwuler Kanon kann ebenso einen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis liefern oder aber er kann sich auf die Klassiker der Weltliteratur stürzen und Beispiele für schwule Literatur dort ausfindig machen. Im vermeintlich Kleinen sieht man, wie schwer es ist, ein für alle Leser befriedigendes Modell herauszubilden.

7. „Paradigmen der Weltliteratur“ (Komparatistik der Ruhr-Uni Bochum)

In einem anderen Fall wird man aber wohl nicht darum herumkommen, sich weiterhin auf die gleichen Inhalte zu stützen, wenn man von Weltliteratur sprechen möchte. In einem solchen Fall studiert man nämlich Literaturwissenschaft (am besten noch Komparatistik, dann hat man direkt alle Literaturen unter einen Hut zu kriegen). Nun stelle man sich vor, man hat schon immer gern gelesen, aber nicht gerade die Klassiker der Weltliteratur. Stattdessen füllen Krimis, Fantasyromane und andere seichte Unterhaltungsliteratur die Bücherregale. „Was soll ich lesen?“ ist eine zu Studienbeginn häufige Frage, mit der sich Studierende auseinandersetzen müssen. Die besonders Eifrigen unter uns suchen daneben nach zusätzlicher Lektüre – und werden im Falle der Bochumer Komparatistik bei den „Paradigmen der Weltliteratur“ fündig.

Das Wort „Paradigmen“ ist klug gewählt, suggeriert es doch anders als Der Kanon keinen überzeitlichen Anspruch der ausgewählten Werke. Vielmehr handelt es sich um Erzählungen beispielhaften Charakters, die ausgewählt wurden, weil sie „literaturhistorische Bedeutung gewonnen“ haben laut der Komparatistik-Homepage. Es finden sich Werke literarischer, religiöser und philosophischer Grundierung und die Werkauswahl reicht von der Antike bis 1991 (in insgesamt zwei Teilen). Wer zusätzlich in die Seminarbeschreibungen schaut, erhält ein breit gefächertes Bild dessen, was Weltliteratur sein kann. Zwar existieren auch hier blinde Flecken, diese weiß sich die Komparatistik aber auch einzugestehen. Und den findigen Studierenden unter Ihnen sei anempfohlen, den Bochumer Kanon auch mit den Lektüreempfehlungen anderer Komparatistik-Studiengänge und sogar anderer Fächer abzugleichen. Sie werden sehen: Was man lesen muss, ist oftmals Auslegungssache. Eine Frage des Geschmacks sozusagen.

8. Fazit

Kanondebatten sind eine Wissenschaft für sich. Sie sind eng verbandelt mit der Literaturkritik und gerade die Selbstbewussten unter diesem Völkchen lehnen sich gern weit aus dem Fenster, wenn sie anderen Menschen ihre Lieblingsliteratur ans Herz legen möchten. Andere Kanonmodelle trauen sich fast gar nicht mehr, dieses schmutzige Wörtchen in den Mund zu nehmen und vielfach kommt es zu Situationen, in denen der Kanon nur noch als Gegenmodell zum Mainstream fungiert. Das ist schade, denn eigentlich kann man aus Kanons sehr viel lernen, aus den schlechten Modellen wie aus den guten. Denn legt man diese Modelle nebeneinander, dann entsteht ein kunterbunter Teppich an Literatur aus aller Welt und aus allen Themenbereichen, den man nicht komplett lesen kann. Aber man kann sich hier und da etwas herauspicken, es anschmecken und bei Nichtgefallen zurücklegen. Trifft man auf den richtigen Geschmack, dann kann ein Kanon das Lesefutter für viele Nächte bereitstellen und den Hunger in uns auf immer neue Geschichten sättigen. Und auch wenn uns ein Urteil mal nicht schmecken sollte (Christa Wolfs Kassandra in einen Anti-Kanon aufzunehmen halte ich für verfehlt, Herr Scheck!), so ist es doch wichtig, es wenigstens probiert zu haben. So halte ich es im Übrigen auch mit Büchern. Auch schlechte Bücher können lesenswert sein und ein guter Verriss kann ebenso als Lektüreempfehlung fungieren. Was Sie lesen müssen, können leider nicht andere an Ihrer Statt entscheiden. Auch wir von literaturundfeuilleton nicht. Doch auch in Zukunft werden wir weiter versuchen, mit unserer Lektüreauswahl Ihnen einen guten Überblick über das zu bieten, was sich zu lesen lohnt. Auf 1.000 weitere Beiträge.

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