Kontrovers, Kontroverser, Geschlechtsidentität

Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid; Cover: Suhrkamp

Blickt man in die Meinungsspalten der Zeitungen im In- und Ausland, so merkt man, dass das große Schreckensgespenst „Geschlecht“ – oder im konservativen Neudeutsch: „Gender“ – durch die Lande zieht. Ein Alleinstellungsmerkmal unserer Zeit? Mitnichten, wie Rainer Herrns Monographie Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933 zeigt. Das Buch führt uns in die Weimarer Republik und in ihre kontroversen Diskussionen rundum Geschlecht, Sexualität und Geschlechtsidentität. Herrn gelingt dabei der Hattrick der Wissenschaftskommunikation: wissenschaftlich sauber gearbeitet, sprachlich ansprechend und auch für Laien verständlich. Eine Empfehlung!

von CAROLIN KAISER

Gerne bildet man sich ein, die eigene Zeit sei besonders, einzigartig und geprägt von Diskussionsthemen, die es in der rückständigen Vergangenheit oder ihrem konservativen Pendant, der „guten alten Zeit“, so nicht gegeben hat beziehungsweise überhaupt hätte geben können. Von reaktionär-rechter Seite werden gerne – und das nicht erst seit heute – die beiden Themenkomplexe Geschlecht und Sexualität ins Feld geführt. Früher seien Männer Männer gewesen und Frauen hätten noch jene arkane, althergebrachte, aber längst vergessene Kulturtechnik beherrscht, die wir heute nur ehrfürchtig flüsternd als „Kochen“ bezeichnen. Was es aber nicht gegeben habe – das wissen alle Viktor-Orban-Fans sowie alle treuen Zuschauer und Zuschauerinnen des russischen Staatsfernsehens und seines US-amerikanischen Pendants in Sachen Homophobie und stupidem Nationalismus, Fox News – das seien Schwule, Lesben, Transmenschen und was für Perversitäten sich auch immer hinter dem Begriff „nicht-binär“ versteckten. Gab es alles nicht! Brauchen Sie gar nicht in die Geschichtsbücher schauen. Angesichts der Vehemenz und nicht selten Giftigkeit, mit der momentan leider nicht mehr nur in Großbritannien und den USA, sondern auch in Deutschland über Geschlecht gestritten wird, lohnt sich aber gerade ein Blick in eben jene Geschichtsbücher. Ein Glück, dass der Suhrkampverlag bereits im Juni die wissenschaftliche, aber durchaus laienfreundliche Monografie des Medizinhistorikers Rainer Herrn Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaft 1919–1933 herausgebracht hat. Bitter nötig, wie sich herausstellt, denn viele Forschungsthemen des Instituts für Sexualwissenschaften sind heute vielleicht aktueller, als sie es zu seinem Bestehen waren.  

Die ungekannte Vorreiterrolle Deutschlands

Das Institut für Sexualwissenschaften in Berlin sowie sein Gründer und Leiter Magnus Hirschfeld (1868–1935) sind vielleicht keine großen Unbekannten der deutschen Geschichte, aber sicherlich doch häufig übersehen. Dass Deutschland nicht nur in der popkulturell gerne als äußerst libertär und sexuell progressiv dargestellten Weimarer Republik[1], sondern schon im miefig-piefigem Kaiserreich ein Vorreiter in Sachen Erforschung menschlicher Sexualität und Geschlechtsidentitäten war, ist zumindest in meiner persönlichen Erfahrung keine allzu verbreitete historische Kenntnis. Auch dass dem 1919 gegründeten Institut und seinen Schriften bei der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 von der NS-Propaganda eine hervorgehobene Stellung zugeschrieben wurde, dass also gerade gegen die Sexualwissenschaft und ihre führenden Forscher als vermeintliche Verfechter eines „undeutschen Geistes“ gehetzt wurde, ist in der bundesdeutschen Erinnerungskultur mehr schlecht als recht verankert. Dabei hat das Institut für Sexualwissenschaft einige faszinierende Geschichten zu erzählen.    

Ein medizinisches Kabinett der Kuriositäten für Laien und Fachpublikum

Herrn erzählt die Geschichte des Instituts für Sexualwissenschaft und seiner wichtigsten Protagonisten (kein generisches Maskulinum an dieser Stelle) chronologisch. Dabei geht er nicht nur auf die alltäglichen Tätigkeiten des Instituts ein – in erster Linie Eheberatungen, Frageabende zu Sexualität und Verhütung, wissenschaftliche Vorträge und Weiterbildungen sowie Führungen durch Bibliothek und Sammlung des Instituts –, sondern auch auf die wissenschaftlichen Arbeiten und Theorien der Ärzte und Wissenschaftler, die mit dem Institut assoziiert waren. Herrn schafft dabei den Spagat zwischen wissenschaftlichem Anspruch und Zugänglichkeit für Nicht-Medizinhistorikerinnen und -historiker. Forschungstrends und -kontroversen in der Sexualwissenschaft beschreibt er ausführlich, aber mit genug Vereinfachungen und Erklärungen, dass man als Laie trotz der Komplexität mancher Diskussionen nicht das Gefühl hat, gar nichts mehr zu verstehen. Hilfreich ist dabei, dass Herrn diese wissenschaftlichen Theorien nicht im luftleeren Raum erklärt, sondern immer wieder an die breiteren gesellschaftlichen Kontexte und das konkrete Handeln der Institutsmitarbeiter rückbindet. Dabei kommt einem so manche schaurige medizinische Kuriosität unter. So propagierte der österreichische Physiologe – und im Anschluss an diesen damaligen Superstar der Sexualforschung auch der ein oder andere Mitarbeiter von Hirschfelds Institut –, dass sich der männliche Körper mittels Vasektomie und im Extremfall Kastration „verjüngen“ und „virilisieren“ lasse. Da es Anfang der 1920er Jahre nicht wenige Männer gab, die aufgrund ihrer traumatischen Erlebnisse im Ersten Weltkrieg unter Depressionen, Impotenz und anderen psychisch-physischen Leiden litten, kam es zu einem regelrechten Boom solcher Eingriffe. Aus heutiger Sicht noch abstruser ist eine andere auf Steinachs endokrinologischen Studien basierende Methode zur Verjüngung des männlichen Körpers beziehungsweise in diesem Fall auch zur „Heilung“ männlicher Homosexualität: der Hodentransplantation. In diesem Verfahren wurde ein (in der Regel menschlicher, „heterosexueller“) Spenderhoden in Scheiben geschnitten und dem Patienten unter die Bauchdecke verpflanzt[2]. Dort sollte der filetierte Hoden dann die richtigen Hormone absondern, um den Patienten entweder in seiner sexuellen Potenz zu verjüngen oder ihn „normal“ sexuell begehren zu lassen. Aufgrund der immer noch virulenten sozialen wie gesetzlichen Ächtung männlicher Homosexualität kamen zum Institut für Sexualwissenschaften immer wieder schwule Männer, die sich dieser Operation unterziehen wollten – nicht selten mit der Drohung, sich selbst das Leben zu nehmen, wenn ihnen die OP verweigert werden sollte.  

Arzt und Aktivist in Personalunion

Dass sich Schwule von Gesellschaft und Gesetz nicht mehr in solche extremen Entscheidungen gedrängt fühlten, sondern ein (Liebes-)Leben führen konnten wie ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossen, dafür sah sich das Institut und insbesondere sein Leiter Magnus Hirschfeld ebenfalls als zuständig an. Hirschfeld, der als deutsch-jüdischer Sozialist und Homosexueller das Maximalfeindbild deutschnational-völkischer und nationalsozialistischer Kreise war, verstand sich nämlich nicht nur als Arzt und international renommierter Sexualforscher – vielmehr sah er sich selbst als Aktivist und Kämpfer für Sexualreformen jeglicher Art. Das Ende der Kriminalisierung sexueller Handlungen zwischen Männern war dabei für Hirschfeld und seine Reformmitstreiter das zentrale Anliegen, aber auch die Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen war Teil ihres Forderungskatalogs. Angesichts dieses progressiv-gesellschaftspolitischen Engagements wäre es nur allzu leicht, Hirschfeld als LGBTQ-Ikone mit weißer Weste zu stilisieren. Herrn spart jedoch die – gerade aus heutiger Sicht – moralisch eher zweifelhaften Aspekte seines zentralen Protagonisten nicht aus. So zum Beispiel die Verträge, die Hirschfeld und sein Institutskollege Arthur Kronfeld mit Pharmaunternehmen abschlossen und die die beiden Ärzte veranlasste, potenzsteigernde sowie verhütende Präparate zu empfehlen, deren Wirkung nicht bewiesen war. Auch, dass Hirschfeld Verfechter eugenischer Bevölkerungspolitik war, adressiert Herrn und bettet es in den Kontext der allgemeinen Eugenikbegeisterung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein.

Packt die Debatten ein, alles alte Hüte

Aus tagesaktueller Sicht besonders interessant und – meiner Meinung nach – erhellend sind die Passagen in Herrns Buch, die sich mit den transgeschlechtlichen Patienten und Patientinnen des Instituts beschäftigen. Ja, ganz recht, meine lieben Welt-Lesenden und -Beitragenden: Transmenschen gab es schon in den 1920er Jahren – und das ganz ohne „Umerziehung“ durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk! Aber noch viel faszinierender als die bloße Existenz von Transmenschen vor 100 Jahren ist die Tatsache, dass sie – trotz aller gesetzlicher und gesellschaftlicher Gängelungen – in einigen Fällen tatsächlich nicht nur ihre Geschlechtsidentität ausleben, sondern sogar ihr Geschlecht offiziell ändern konnten. Herrn weiß so beispielweise von mehreren Transmännern zu berichten, die ihre Freundinnen amtlich beglaubigt und anerkannt ehelichten. Der Liebe und dem Leid bietet so dringend notwendige geschichtliche Kontextualisierungen für Debatten an, die wir in den kommenden Jahren vermutlich noch öfter führen müssen – man schaue nur in die USA oder nach Großbritannien, wo Transmenschen mittlerweile unverhältnismäßig oft von transfeindlichen Kommentatoren und Kommentatorinnen thematisiert werden. Umso erfreulicher ist es, dass Herrns Werk mit Suhrkamp bei einem Verlag gelandet ist, der es sich leisten kann, wissenschaftliche Bücher nicht zu den sonst in der Fachliteratur üblichen Mondpreisen anzubieten. Mit 36 Euro ist das Buch sicherlich kein Spontankauf, dafür bekommt man aber fast 700 Seiten in festem Einband. Auch sprachlich und konzeptionell ist die Monographie deutlich ansprechender und einsteigerfreundlicher als das Gros der deutschsprachigen Publikationen im wissenschaftlichen Bereich. Es bleibt zu hoffen, dass auch der eine oder andere Laie einen Blick in Herrns Buch wirft – denn dann wird er oder sie feststellen, dass schon vor 100 Jahren Geschlecht, Sexualität und Geschlechtsidentität zu den am kontroversesten und giftigsten diskutierten Themen gehörten. So besonders sind unsere Zeiten also nicht.     

Rainer Herrn: Der Liebe und dem Leid. Das Institut für Sexualwissenschaften 1919–1933

Suhrkamp, 681 Seiten

Preis: 36,00 Euro

ISBN: 978-3-518-43054-5


[1] Ein Mythos, der seinen Ursprung übrigens in der NS-Propaganda hat.

[2] Aufgrund der Schwierigkeit, solche menschlichen Spenderhoden zu bekommen, gab es auch Versuche, die Hoden von Rhesusaffen zu benutzen.

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