In unserem heutigen Porträt widmen wir uns einem Autor, der in Deutschland so unbekannt ist, dass er noch nicht einmal einen eigenen Wikipedia-Artikel hat. Dabei hat Johannes Linnankoski mit Laulu tulipunaisesta kukasta (dt.: Das Lied der glutroten Blume) einen der bekanntesten Romane der finnischen Nationalliteratur geschrieben. Den Roman kennen Sie noch weniger als den Autor? Wenig verwunderlich, ist Linnankoskis Werk doch bis heute in der Bundesrepublik Deutschland nicht erschienen. Heute jährt sich Linnankoskis Tod zum 109. Mal – Grund genug, einen genaueren Blick auf diesen anti-romantischen Romantiker zu werfen. Und auf ein formatives Kinoerlebnis in Frankreich.
von CAROLIN KAISER
Meine erste Begegnung mit Johannes Linnankoski war in einem französischen Programmkino, in dem die Leute nach guten Filmen aufstanden und klatschten, weit weg von den beiden großen Albträumen elitärer Kinoliebhaberinnen und -liebhaber wie mir – Synchronisation und Hollywood. Gezeigt wurde ein Film, der mich allein schon wegen seines langen, komplizierten Titels faszinierte: Laulu tulipunaisesta kukasta. Ich hatte absolut keine Ahnung, was das hieß oder was mich erwarten würde. Von dem Regisseur Teuvo Tulio hatte ich noch nie gehört und mit dem finnischen Kino der späten 1930er Jahre – der Film ist Jahrgang ’38 – kannte ich mich auch überhaupt nicht aus. Die Bilder im Programmheft[1] des Kinos ließen den Film wie einen typischen Heimatfilm mit idyllischen Naturaufnahmen und süßlicher Liebesgeschichte aussehen – absolut gar nicht mein Genre. Aber da man in Frankreich schon für wenig Geld ins Kino kommt, entschloss ich mich, dem Film eine Chance zu geben – allein schon, um ein bisschen Finnisch zu hören, allzu häufig kommt einem das ja nicht vor die Ohren. In Erwartung eines kitschigen Liebesfilms, an den ich mich nächste Woche schon nicht mehr würde erinnern können, ließ ich mich in einem der Sitze im Kinosaal nieder. Doch meine Erwartungen wurden enttäuscht. Anstatt einer 08/15-Schwarzweiß-Schmonzette, wurde ich Zeuge einer meisterhaften Dekonstruktion des Heimatfilms, einer Art Anti-Heimatfilm. Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Der Film vor meinen Augen war nämlich gleichzeitig eine genauso meisterhafte ernsthafte Umsetzung eines Heimatfilms, eine Art Über-Heimatfilm. Hätte man mich in dem Moment gefragt, wo ich den Rest meines kümmerlichen Lebens verbringen wollte, ich hätte gesagt: „In den finnischen Wäldern mit ihren sanften Hügeln und kräftigen Fichten, mit ihren reißenden Flüssen und taghellen Sommernächten.“ Ich war bekehrt, ich verstand, warum gerade in schweren nationalen Zeiten Heimatfilme produziert wurden und werden. Das war die eine Seite meiner Gefühlslage, die unkritische, die, die sich von hübschen Aufnahmen der unbekümmerten finnischen Natur einlullen ließ. Auf der in ihren analytischen Fähigkeiten noch nicht komplett ausgeknockten Seite wurde ich gewahr, dass ich gerade einen Liebesfilm gesehen hatte, der seinen – entschuldigen Sie den Kraftausdruck – arschgeigigen Protagonisten als das darstellte, was er wirklich war – eine Arschgeige. Die erhabene Schönheit der finnischen Landschaften biss sich mit dem Egoismus der Hauptfigur, die Protagonist und Antagonist zugleich war, mit der dreisten Unbedarftheit, mit der eben jener Olavi Leben um sich herum zerstörte, ohne dabei zu merken, wie er sich selbst zugrunde richtete. Selten hat mich ein Film so melancholisch zurückgelassen. Aber auch ratlos. Eigentlich hatte ich nichts so Besonderes gesehen. Es war im Grunde die alte Geschichte von Don Juan, dem Frauenhelden, dem sein Frauenheldentum zum Verhängnis wird. Der Titel der DDR-Übersetzung des Romans, auf dem Tulios Film basiert, hat es schon ganz treffend – wenn auch literarisch absolut grausig – formuliert: Laulu tulipunaisesta kukasta ist Don Juan in Suomi[2]. Für mich stand nach jenem Kinoabend jedenfalls fest, dass ich mich mit diesem Roman und seinem Autor, Johannes Linnankoski, näher beschäftigen musste.
Mehr als nur ein Bauernsohn
Johannes Linnankoski wurde 1869 unter dem deutlich finnischer klingenden Namen Juhani Vihtori Peltonen als jüngstes von sieben Kindern in Askola geboren. Im kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Leben seiner Heimatregion Uusimaa engagierte sich Linnankoski, der aus einer eher ländlich-bäuerlich geprägten Familie stammte, vielseitig. Er gründete nicht nur eine Bank, sondern auch mehrere Schulen für die finnische Sprache und die bis heute bestehende Regionalzeitung Uusimaa – die erste finnischsprachige Tageszeitung in der Region, die ihren Sitz nicht in einer der großen Städte der Region hatte, zu der unter anderem Helsinki gehört. Für Uusimaa schrieb Linnankoski auch selbst, die Leitartikel stammten in der Regel aus seiner Feder. Dieses Sprachrohr nutzte er, um ein ihm wichtiges politisches Anliegen nach vornezubringen: die Stärkung der finnischen Sprache. Denn im Finnland der Jahrhundertwende war das Schwedische, das zumeist von den Angehörigen der Oberschicht gesprochen wurde, zwar bei Weitem nicht die verbreiteteste Mutter- und Alltagssprache, bis 1902 aber nichtsdestotrotz die einzige offizielle Amtssprache in dem zu der Zeit zum Russischen Zarenreich gehörenden Finnland. Auch die Alphabetisierungsrate der schwedischsprachigen Bevölkerung war deutlich höher als die finnischsprachigen. In diesen Funktionen und Engagement war Linnankoski seinen Zeitgenossinnen und Zeitgenossen dabei unter seinem eigentlichen Namen, Vihtori Peltonen, bekannt. Den Künstlernamen „Johannes Linnankoski“ benutze er ausschließlich für seine literarischen Arbeiten. Hier ließ Linnankoski keine der drei großen Gattungen – Lyrik, Dramatik, Epik – unbearbeitet. Auch wenn seine große Leidenschaft die Dramatik war, so war es ein Roman, der Linnankoski 1905 einen festen Platz in der noch jungen finnischen Nationalliteratur sicherte.
Floristik für Flößer
Als Laulu tulipunaisesta kukasta 1905 erschien, war es sowohl bei Literaturkritikern als auch beim Publikum ein voller Erfolg. Eine zweite Auflage des romantischen Romans folgte nur ein halbes Jahr nach Erscheinen der ersten und auch in andere Sprachen wurde das Buch für damalige Verhältnisse schnell übersetzt – eine erste deutschsprachige Übersetzung erschien bereits 1909 unter dem Titel Das Lied der glutroten Blume. Der Roman erzählt die Geschichte von Olavi Koskela, Sohn eines reichen Bauern, der sich um seiner persönlichen Freiheit willen entscheidet, den elterlichen Hof zu verlassen, um sich als Flößer zu verdingen. Seine gute Bildung, seine Wortgewandtheit und seine Schönheit stehen im starken Kontrast zum gängigen Bild des Flößers als ungebildeter Gröbling und Olavi nutzt die Faszination, die von dieser Diskrepanz ausgeht, um in den Dörfern, durch die der Flößertrupp zieht, junge Frauen und Mädchen zu verführen. Diese Frauen haben für Olavi keine Namen, er nennt sie „Traubenkirschblüte“, „Clematis“ oder „Geranie“ und genau wie Sommerblumen, so vergeht auch Olavis Interesse an ihnen, wenn die Jahreszeit wechselt und die Flößer weiter stromabwärts ziehen, ins nächste Dorf, wo schon die nächsten Blüten warten. So ziehen die Jahre ins Land, aus dem Jüngling Olavi wird ein Mann, der im Spiegel schon die ersten Falten erblickt und mit Olavis jugendlicher Schönheit, schwindet langsam auch sein jugendliches Selbstbewusstsein. Ist er sich zu Beginn seiner Wanderjahre noch sicher, dass er den jungen Frauen etwas Gutes tut, wenn er sie mit seiner Liebe für einige Woche aus ihrem liebesarmen Alltag befreit, so fängt er nach Jahren immer wechselnder Liebschaften an, an dieser Überzeugung zu zweifeln und sie als das zu erkennen, was sie ist: Selbsttäuschung. Linnankoski benutzt den Archetypus des donjuanesken Frauenhelden, um eine Geschichte über das Gute und das Böse im einzelnen Menschen zu erzählen, über die Fähigkeit, sich der eigenen, lange ignorierten Fehltritte bewusst zu werden und zu versuchen, sich zu bessern – aber nicht, um in die engen Normen der Gesellschaft ohne Anecken hineinzupassen, sondern um das Leben zu finden, dass für einen selbst auf der Erde am meisten Sinn macht, ohne jedoch anderen dabei zu schaden.
Ein bisschen Kitsch braucht der Mensch
Auch wenn dieser Vergleich zum romanischen Don Juan naheliegt, war es vermutlich nicht der spanische Frauenheld, den Linnankoski als literarisches Vorbild im Kopf hatte, als er die Figur des Olavi Koskela entwarf. Wahrscheinlich war es eher Lemminkäinen aus dem Kalevala, dem finnischen Nationalepos, der Linnankoski als Leitfaden und Inspiration diente. Ähnlich wie Olavi zeichnet sich auch Lemminkäinen durch Kühnheit, Schönheit und dem ständigen Verführen von Frauen aus. Dass Linnankoski bewusst auf Vorgänger aus der zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch sehr überschaubaren finnischsprachigen Literatur rekurrierte, ist angesichts Linnankoskis Einsatz für die finnische Sprache wenig verwunderlich. Aber nicht nur in der Figurenzeichnung zeigt sich der Einfluss des Kalevala, jenem mythischen Versepos, das selbst schon zum Mythos geworden ist – Behauptungen, das Kalevala habe eine eigenständige finnische Nation überhaupt erst ermöglicht, halten sich beharrlich. Auch in der literarischen und sprachlichen Gestaltung spürt man die Präsenz des Kalevala. Hier wie dort ist die Personalisierung von Natur und Gegenständen präsent und gibt Laulu tulipunaisesta kukasta eine lyrisch-magische Stimmungslage, die in einem Roman, bei dem man gerade in seinem letzten Drittel starke Anzeichen des Realismus findet, eher selten ist. Linnankoskis Roman balanciert mit dem rhetorischen Mittel der Personalisierung und einer Sprache, die man sonst eher in Gedichten findet, auf dem schmalen Balken zwischen Kitsch und Erhabenheit. Lesen Sie sich nur einmal die ersten Sätze des Romans durch:
„Die Nachmittagssonne war auf dem bewaldeten Hang des Hügels zu Besuch. Sie streckte die Hand zwischen den Bäumen hindurch oder blinzelte mit den Augen, nahm in ihren Schoß, was am nächsten lag. Der ganze Hang jubilierte. Der Sommerwind sang seine Sagen von südlichen Ländern. Wie sind die Bäume dort wunderbar hoch, wie dämmrig die Wälder, welche Wärme im Boden, welcher Glanz in den Bäumen […]. Der ganze Hang spitzte die Ohren. Der Kuckuck setzte sich für einen Augenblick auf einen Zweig der rotblühendsten Fichte, neben die feurigste Blütenkerze. „Sei’s, wie es sei“, rief er, „aber nirgendwo frohlockt so das Herz vor Freude, klingt solch ein Klang wie im nordischen Frühlingswald!“ Der ganze Hügel nickte dazu.“
Für den Leser und die Leserin des 21. Jahrhunderts wirkt Linnankoskis blumige Sprache zu Beginn vielleicht etwas antiquiert, aber der Roman zieht diese Poetik mit einer solchen Konsequenz und Ernsthaftigkeit durch, dass man sich nach 20 Seiten fragt, warum nicht mehr Autoren und Autorinnen heutzutage Sätze schreiben wie: „Die Sonne schickte einen strahlenden Gruß über die abfallende Uferlandschaft, füllte ihre Lunge mit nächtlicher Kühle und trank glitzernde Tauperlen als Morgentrunk.“ Ist das kitschig? Absolut! Aber wann haben Sie zuletzt das Wort „Morgentrunk“ gehört? Oder gar selbst benutzt? – Eben. Ein bisschen Kitsch ab und an hält unseren Wörtervorrat gefüllt. Umso bedauerlicher, dass Linnankoskis Roman – oder irgendein anderes seiner Werke – bis heute nicht in der Bundesrepublik Deutschland erschienen ist. Wer in den Genuss von Linnankoskis Literatur kommen möchte, ist auf antiquarische Ausgaben angewiesen. Kein Wunder also, dass der Mann noch nicht einmal einen deutschsprachigen Wikipedia-Artikel hat[3]. Wahrscheinlich ist dieser Blogbeitrag das ausführlichste Schriftstück zu Linnankoski im deutschsprachigen Internet. Liebe deutschsprachige Verlage – vielleicht kann man da was ändern? Wie wär’s mit einer Neuausgabe von Laulu tulipunaisesta kukasta? Angesichts der momentanen Weltlage könnten wir glaube ich alle ein bisschen Kitsch vertragen.
Meine Empfehlungen:
Laulu tulipunaisesta kukasta (1938)
Regie: Teuvo Tulio
Darsteller: Kaarlo Oksanen, Rakel Linnanheimo, Mirjami Kuosmanen, Maire Ranius
Laufzeit: 110 Minuten
Johannes Linnankoski: Don Juan in Suomi. Nach älteren Übertragungen neubearbeitet von Heinz Goldberg
VEB Hinstorff Verlag Rostock, 247 Seiten.
Preis: antiquarisch erhältlich
Lizenznummer: 391/240/3/63
[1] Ja, in Frankreich gibt es so etwas noch. Gedruckt. Hochglanz. Glauben Sie es mir.
[2] „Suomi“ ist das finnische Wort für Finnland. Ich frage mich wirklich, was den VEB Hinstorff Verlag dazu veranlasst hat, sich für dieses Fremdwort zu entscheiden. War den Leuten in der DDR Finnisch so geläufig? Wenn ja – Hut ab, die finnische Sprache hat 15 grammatikalische Fälle und ist so nah mit dem Deutschen verwandt wie Stabheuschrecke und Labradoodle.
[3] Selbst mein früherer Geschichtslehrer hat einen eigenen Wikipedia-Artikel, was mich zu der These führt, dass es weniger über eine (mehr oder weniger) berühmte Person aussagt, was in ihrem Wikipedia-Artikel steht, sondern ob sie überhaupt einen hat.