Kommt hier die deutsche Maus?

Barbara Yelin, Miriam Libicki, Gilad Seliktar: Aber ich lebe; Cover: C. H. Beck

Zeitzeugen sprechen über die Shoah: Das Thema begleitet uns seit über 70 Jahren, doch auserzählt ist es noch lange nicht. Der Graphic-Novel-Band Aber ich lebe wagt sich an das Thema durch Überlebendenberichte aus Kinderperspektive heran. Insgesamt drei Erzählungen überzeugen durch das Beschreiten einzigartiger Pfade des Überlebens und durch die Vielfalt der Zeichenstile. Doch ob es für die Erwartungshaltung reicht, die Aber ich lebe mit Bezugnahmen zu Art Spiegelmans Maus weckt?

von THOMAS STÖCK

Das Zeitzeugentum der Shoah (bzw. des Holocaust, wie die Vernichtung der europäischen Juden in Deutschland zumeist genannt wird) ist auf Sand gebaut – dem rinnenden Sand der Zeit. Und mit jedem fallenden Körnchen nähern wir uns dem Moment, ab dem kein Überlebender mehr von seinem Schicksal erzählen kann. Zum 77. Mal jährten sich 2022 die Befreiung der Insassen von Auschwitz, Hitlers Suizid und Deutschlands Kapitulation. Über die Shoah ist bereits vieles erzählt, aber längst noch nicht alles gesagt worden. Wie auch? Bei den Schicksalen der Überlebenden – in denen zugleich die Leidensgeschichten vieler Angehöriger, Bekannter und Fremder aufgegangen sind, die durch die deutsche Vernichtungsmaschinerie getötet wurden – handelt es sich um hochpersönliche Erfahrungsberichte, die es kein zweites Mal gibt. Noch immer gibt es dem reichhaltigen Fundus an Sonderwegen etwas hinzuzufügen.

Vier dieser Sonderwege präsentiert der Band Aber ich lebe. Bei diesem Band handelt es sich um insgesamt drei Graphic Novels, für die sich die Deutsche Barbara Yelin, die Kanadierin Miriam Libicki sowie der Israeli Gilad Seliktar verantwortlich zeichnen. In diesen Graphic Novels verarbeitet finden sich die Gespräche der drei Comiczeichner mit den Überlebenden Emmie Arbel (Yelin), David Schaffer (Libicki) sowie den Brüdern Nico und Rolf Kamp (Seliktar). Zu den Graphic Novels gesellen sich: ein Gespräch der Graphic Novelists, in dem sie das Projekt und dessen Hürden reflektieren; vier wenige Seiten lange Berichte der Überlebenden, in denen sie ihre Widerfahrnisse und ihr weiteres Leben zusammenfassen; und wissenschaftliche Beiträge, die die Erlebnisse durch Zahlen, Daten, Fakten kontextualisieren. Ein ehrgeiziges Projekt also, von dem ich drei verschiedene Ebenen genauer beleuchten möchte: Die Erzählungen, die Zeichenstile sowie das didaktische Konzept von Aber ich lebe.

Die Erzählungen: „Unser Überleben war Widerstand“

Allen drei Erzählungen ist gemeinsam, dass die Überlebenden während der Shoah noch Kinder waren. Arbels Weg beginnt in den Niederlanden, findet mit dem Aufgreifen durch die Polizei seine Fortsetzung und endet in den Konzentrationslagern Ravensbrück und Bergen-Belsen. Schaffer wiederum wächst in der Bukowina auf, einem ehemals Österreich-Ungarn zugehörigen Landstrich, die zu Zeiten Schaffers dem rumänischen Staat angehörte und in der heutigen Ukraine liegt. Sein Weg durch die Jahre der NS-Kollaboration in Rumänien führt ihn durch die Wälder in die ukrainische Region Transnistrien, wo seine Familie in einem kleinen Dorf unterkommt. Die aus Deutschland in die Niederlande migrierten Gebrüder Kamp wiederum berichten von ihren insgesamt dreizehn Verstecken, die der niederländische Untergrund für sie auftat.

Die drei Erzählungen zeigen drei gänzlich unterschiedliche Pfade, auf die sich die Shoah-Überlebenden begeben mussten, um den systematischen Tötungsaktionen aus dem Weg zu gehen. Zugleich wird an ihnen deutlich, wie unterschiedlich das Erinnern an die traumatischen Erlebnisse vonstattengehen kann. Als Arbels Leidensweg begann, war sie gerade einmal vier Jahre alt. In ihrem Erzählteil wird deutlich, wie nahe Erinnern und Nicht-Erinnern zueinander stehen. Durch den Krieg Vollwaise geworden, brachen sich die traumatischen Erinnerungen der Konzentrationslager erst Jahre später Bahn. Besonders der Tod der Mutter, der sie erst kurz nach der Befreiung ereilte, prägt Arbels Gedenken ihrer Leidensgeschichte.

Schaffers Familie verlor am Beginn der Verfolgungen seine Urgroßmutter. Das Familiengefüge bleibt jedoch trotz der jahrelangen Entbehrungen weitestgehend intakt. Der Familie gelingt es, sich den lebensbedrohlichen Regelungen der rumänischen (und später auch deutschen) Soldaten zu widersetzen. Im Grunde, so beschreibt es Schaffer, war das aufs Überleben ausgerichtete Verhalten der Familie ein Akt des Widerstands:

„Unser Überleben war Widerstand gegen diese Leute. Sie ergriffen tausende Menschen und schickten sie an einen Ort im Nirgendwo, ohne Hilfsmittel. Um zu überleben, mussten wir ihre Regeln übertreten. Man kann es Widerstand nennen, man kann es Überlebensinstinkt nennen, wie man will. Weglaufen war Widerstand. Nahrung finden war Widerstand. Den Horror zu überstehen war Widerstand.“

Im Erzählteil der Gebrüder Kamp wiederum wird deutlich, dass selbst die im Kern gleichen Erlebnisse unterschiedliche Erinnerungen zeitigen können. Auch die beiden Brüder werden im Laufe der Handlung von ihren Eltern getrennt – der Vater wird ermordet, die Mutter überlebt. An ihrem Schicksal zeigt sich die große Bedeutung der Menschen im Widerstand, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um andere Menschen vor Verfolgung zu schützen. Die Geschichten, so wird deutlich, hätten kaum besser ausgewählt werden können, um trotz eines verbindenden Moments – alle vier Erzähler sind Kinder – so unterschiedliche Überlebenspfade und zugleich so unterschiedliche Zugänge zur eigenen Erinnerung darstellen zu können.

Die Zeichenstile: Variatio delectat

Unter den drei renommierten Graphic Novelists dürfte Barbara Yelin unter dem deutschsprachigen Publikum am bekanntesten sein. Ihre Graphic Novel Irminaist ein gutes Beispiel für die Möglichkeiten, die das fiktionale Erzählen vom Zweiten Weltkrieg in der Graphic Novel bietet. Auffällig ist in ihrer hiesigen Erzählung die Dominanz der Farbe Blau, die sich vom schmutzigen Grau der Umgebung abhebt. Sicherlich existiert eine Vielzahl an Interpretationsmöglichkeiten dieser Farbe. Auf der Hand liegt eine Assoziation mit dem Davidstern, der auf der israelischen Flagge in Blau dargestellt wird. In Anbetracht der Tatsache, dass die Gespräche zwischen Arbel und Yelin (und auch zwischen den drei Zeichnern untereinander) auf Englisch geführt wurden, bietet sich eine Assoziation mit der englischen Redensart to feel blue an: In der Farbe Blau spiegelt sich demnach die Trauer, die Arbel bei der Erinnerung an ihre Eltern und die trostlose Zeit in den Konzentrationslagern überkommt und die sie immer wieder innehalten lässt.

Miriam Libicki erlangte ihr Renommee als Comickünstlerin durch grafisch aufbereitete, essayistische Sachtexte. Ihr Erzählteil ist der mit Abstand farbenprächtigste, wobei das Hauptaugenmerk auf der Darstellung der Gesichter der jüdischen Hauptfiguren gerichtet ist. Besonders die übergroßen Augen fallen dem Betrachter in den Blick. Auch dieser Erzählteil endet mit einem dominanten Blau: der Flussüberquerung der Familie Schaffer, die neue Herausforderungen verspricht.

Gilad Seliktars Erzählung ist angelehnt an Schwarz-Weiß-Fotografien und -Filme, welches durch wenige Farben substituiert wird. Auch hier bildet Blau in einer dunklen und einer hellen Ausprägung den Blickfang. Ergänzt wird dies durch Beige und einen oftmals großflächigen weißen Hintergrund, der in den Erinnerungen durch das dominante blässliche Blau verdrängt wird. Der realistische Zugang zu den Erinnerungen der Kamps wird unterstrichen durch die oftmalige Integration von Mikrofonen in der Darstellung der Interviewsituationen. Die drei unterschiedlichen Zeichenstile, die auch in unterschiedlichen Arbeitsmethoden begründet liegen, verleihen den Geschichten variierende Dynamiken. Das Changieren des Zeichenstils ist eine gelungene Entscheidung, denn drei Geschichten aus einer Feder wären der Wahrnehmung der Singularität der Erlebnisse abträglich gewesen.

Das didaktische Konzept: Eine Maus und ihr Rattenschwanz

Bleibt nur noch das, was ich als didaktisches Konzept bezeichne. Denn der vorliegende Graphic-Novel-Band hat als Zielpublikum die junge Leserschaft ins Auge gefasst, die mit der Shoah-Literatur nicht oder nur in Ansätzen in Kontakt gekommen ist. Die Graphic Novels sollen einen Einstieg bieten für diejenigen, denen langatmige Romane noch zu schwer sind. In dieses Konzept passt es, dass die Überlebenden nach den Graphic Novels noch einmal selbst zu Wort kommen dürfen. So werden die Erzählungen durch den eher berichtenden Stil beglaubigt. Auch eine Kontextualisierung der Ereignisse ist wichtig. Bei den Texten von Andrea Löw, Alexander Korb und Dienke Hondius steht jedoch die wissenschaftliche Genauigkeit an manchen Stellen vor der Zugänglichkeit für junge Leser. Bestes Beispiel ist der ausufernde Fußnotenapparat unter Hondius’ Text. Auch das Schlusswort der Herausgeber „Über dieses Projekt“ spricht dafür, dass man zu Ungunsten des erwählten Publikums lieber nochmal das Wort ergreift als sich darum zu scheren, ob die Projekthintergründe für die junge Leserschaft überhaupt interessant oder von Bedeutung sind.

Hierin begründet sehe ich das Zurückbleiben von Aber ich lebe hinter Art Spiegelmans Maus. Einen Vergleich scheuen müssen die vorliegenden Graphic Novels nicht und zu Recht wird dieser auch selbst durch James E. Youngs Urteil auf dem Buchrücken aufgerufen („Die stärksten Graphic Novels über den Holocaust seit Art Spiegelmans ‚Maus‘.“). Doch zieht der Vergleich mit Maus einen Rattenschwanz an Anspruchsdenken nach sich. Immerhin muss sich Aber ich lebe nun mit der paradigmatischen Shoah-Graphic-Novel überhaupt messen, die durch die tierische Darstellung aller Figuren, aber auch durch das Sujet des Überlebendenberichts in der Graphic Novel für einige Kontroversen sorgte. Erst durch die Maus gerieten wissenschaftliche Auseinandersetzungen mit Shoah-Comics en vogue. Im Vergleich ist Aber ich lebe durch das als Hilfestellung gedachte Beiwerk viel zu sachlich-nüchtern, als dass es mit der spannungsgeladenen Maus mithalten könnte. Aber Platz zwei ist auch nicht schlecht.

Barbara Yelin, Miriam Libicki u. Gilad Seliktar: Aber ich lebe. Vier Kinder überleben den Holocaust. Nach den Erinnerungen von Emmie Arbel, David Schaffer, Nico Kamp und Rolf Kamp. Aus dem Englischen von Rita Seuß. Herausgegeben von Charlotte Schallié
Verlag C. H. Beck, 176 Seiten
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-406-79045-4

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