Das fremde Kind des Schauerromantikers E. T. A. Hoffmann entführt uns in eine Welt, die zunächst von den allzu realen Gegensätzen um 1800 geprägt zu sein scheint. Doch schon bald dringen die fantastischen Wesen und Momente in den Alltag der beiden Protagonisten Felix und Christlieb ein. Ein prachtvoll illustriertes romantisches Kunstmärchen entfaltet seine Wirkung.
von THOMAS STÖCK
In einer Zeit, als man die Worte „Es war einmal…“ noch nicht automatisch mit Märchen assoziierte, da taten sich die deutschsprachigen Romantiker als Märchenonkel hervor und verfassten sogenannte Kunstmärchen. Auch E. T. A. Hoffmann bildet hiervon keine Ausnahme. Und so kommt es, dass der Secession Verlag ein solches Kunstmärchen neuauflegen kann: Es trägt den Namen Das fremde Kind. Für die Neuauflage hat der Verlag sich etwas Besonderes ausgedacht: Eingekleidet ist das Kunstmärchen nämlich in farbige Illustrationen aus der Feder Katina Peevas, die im Rahmen der Stiftung Kulturelle Perspektiven (Leitung: Ina Kancheva) das Kunstmärchen neu kontextualisiert. Dem fremden Kind beigefügt ist außerdem noch eine Musikplaylist, die über einen QR-Code jedoch nur auf YouTube verlinkt ist und keine engere Anbindung an das vorliegende Buch erfährt. Das ist schade, denn immerhin hat Ina Kancheva ganz richtig erkannt, dass E. T. A. Hoffmann als Musikenthusiast über eine Verbindung von Kunstmärchen und Musik seine helle Freude hätte. Wussten Sie eigentlich, dass Hoffmann seinen dritten Vornamen Wilhelm Mozart zu Ehren in Amadeus abänderte? Zielgruppe dieses Buchs sind nicht nur Kinder, auch wenn denen das spektakuläre Büchlein sicherlich auch gefallen dürfte.
Doch zurück zum Märchen: Die Farbgebung der Illustrationen, in der die Farben Grün und Braun dominante Komponenten darstellen, passt trefflich zum Handlungsort. Denn Das fremde Kind ist in einem kleinen Dorf am Waldesrand situiert, inmitten der Natur. In dem kleinen Dörfchen namens Brakelheim wohnt der Edelmann Herr Thaddäus von Brakel, der stolzer Besitzer eines Häuschens sowie Herr von vier Bauern ist. Außerdem ist er Vater zweier Kinder, dem älteren Jungen Felix sowie des jüngeren Mädchens Christlieb. Diese beiden Kinderlein lieben es, im Wald zu spielen. Darin fügt sich auch die Bild gewordene Szenerie nahtlos ein und zeigt uns die Kinderlein inmitten von Flora und Fauna. Eines Tages gerät das harmonische Dorfleben jedoch aus den Fugen, als der vornehme Onkel die Familie aufsucht.
Von Twain’schen Parallelwelten…
Im Dorf tritt große Unruhe ein, denn der Herr von Brakel will sich vor seinem Bruder Cyprianus von Brakel angemessen präsentieren. Deshalb instruiert er auch seine Kinder, sie sollen sich ja artig benehmen. Als der Onkel eintrifft, wird dem Leser der gravierende Unterschied zwischen den beiden Lebenswelten schnell klar: Der pompöse Auftritt von Onkel, Tantchen sowie Cousin und Cousine bringt Felix und Christlieb aus der Fassung. Aufwendig drapiert ist die Frisur des vornehmen Mädchens, der Junge wiederum trägt sogar einen Säbel – trotzdem fürchten sich die reichen Kinder sowohl vor Felix und Christlieb als auch vor dem Hund des Hauses. Statt den Säbel zur Hand nimmt der verwöhnte Junge Reißaus, als der Hund Felix beschützen will.
Die dargestellten Unterschiede erinnern stark an Mark Twains Prinz und Bettelknabe, in denen der Bettelknabe mit dem Prinzen kurzerhand die Rollen tauscht, um die Lebensrealität des Anderen in den Blick nehmen zu können. Felix und Christlieb gelingt dieser Einblick – neben dem Anschauungsmaterial, das sie in den Kindern vorfinden – durch das Spielzeug, das ihnen der Onkel schenkt. Unter diesen finden sich eine Puppe, an der Christlieb ihre helle Freude hat, und ein Jägersmann, mit dem Felix spielen möchte. Doch in ihrem geliebten Wald werden sie der Spielsachen bald leid und werfen sie achtlos fort.
… hinein in fantastische Märchenwelten
Ungefähr hier wechselt das Hoffmann’sche Märchen über: Statt Twain’scher Parallelwelten begeben wir uns hinein in die fantastischen Märchenwelten der deutschen Romantiker. Im Wald treffen Felix und Christlieb nun nämlich auf ein fremdes Kind, welches sie mit seiner wundersamen Art ganz und gar verzaubert. Am Abend können sie sich kaum vom Spiel mit dem fremden Kind loseisen. Nun wird auch verständlich, warum die Illustrationen der vorliegenden Ausgabe den tierischen Bewohnern des Waldes fantastische, teils groteske Züge verleihen: Die Kinder sind von einer überbordenden Fantasie beseelt.
Zu Hause erwartet sie aber bald die nächste Überraschung, denn Onkel Cyprianus hat den Kindern einen Hauslehrer kommen lassen, damit Felix und Christlieb bald genauso gebildet sind wie die Kinder des Cyprianus. Auch der Hauslehrer scheint den Kindern magisch – jedoch gänzlich anders als das bezaubernde Kind. Wie das wohl zusammenhängt? Das sollten Sie am besten selbst herausfinden.
E. T. A. Hoffmann: Das fremde Kind. Mit Illustrationen von Katina Peeva und Musik zusammengestellt von Ina Kancheva
Secession Verlag, 96 Seiten
Preis: 25,00 Euro
ISBN: 978-3-96639-047-7