Anna Yeliz Schentkes Debütroman Kangal berichtet von den sich etablierenden Überwachungsstrukturen in der türkischen Diktatur unter Recep Tayyip Erdoğan in Folge des Putschversuchs 2016. Zur titelgebenden Metapher wird dabei der türkische Hirtenhund Kangal, der sich mutig den Wölfen der Diktatur entgegenstellt. In plastischen, direkten Formulierungen wird ein Klima der Angst aufgerufen, das aufgrund der Sprachmischung eine poetische Einladung wie Herausforderung an deutschsprachige Leser aufbietet. Ein politisch hochbrisanter Roman, aber für den Deutschen Buchpreis zu wenig.
von THOMAS STÖCK
Der Kangal zählt zu den internationalen Rassehunden. Lange Zeit war er auch bekannt als Anatolischer Hirtenhund – und genau das ist sein Metier. Der Schutz seiner Herde hat für ihn oberste Priorität. Im Standard der Fédération Cynologique Internationale wird sein Verhalten wie folgt beschrieben:
„Ruhig und mutig, ohne Aggression, von Natur aus unabhängig, sehr intelligent und folgsam. Stolz und selbstbewusst. Loyal und liebevoll zu seinen Besitzern, aber vorsichtig gegenüber Fremden, wenn er im Dienst ist.“
Als Kangal1210 bezeichnet sich die Protagonistin in Anna Yeliz Schentkes gleichnamigem Roman. Dilek vereint viele der Eigenschaften auf sich, die auch den Kangal auszeichnen. Mit ihrem Mut stellt sie sich der im Roman namentlich nicht benannten Erdoğan-Diktatur entgegen, indem sie online gegen Fehlentwicklungen wettert. In Folge des fehlgeschlagenen Militärputsches im Jahr 2016 ist dieses Unterfangen jedoch gefährlich.
Auf offener Straße ist ein Widerstand längst undenkbar und selbst Gegenstimmen im Netz drohen Repressalien, die von tätlichen Angriffen auf offener Straße, über monatelange Untersuchungshaft inklusive nicht enden wollender Verhöre bis hin zu Schauprozessen vor Gericht und sich anschließender jahrzehntelanger Haft reichen. Die Opposition soll eingeschüchtert und mundtot gemacht werden – und dafür ist jedes Mittel recht. Selbst mit den türkischen Rechtsextremisten, die unter dem Namen Bozkurtlar bzw. auf Deutsch Graue Wölfe firmieren, und deren politischem Arm, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), ist die AKP eine Koalition eingegangen. Zur Info: Die Grauen Wölfe sind die größte rechtsextreme Organisation in Deutschland. Der namensgebende Wolf leitet sich aus der türkischen Mythologie ab. In vielen Ländern Europas sind die Grauen Wölfe verboten, in der Türkei ist ihr politischer Arm in Regierungsverantwortung. Kangal1210 und andere widerständige Personen müssen ständig fürchten, auf offener Straße verhaftet zu werden. Ein Klima der Angst regiert in der Türkei, ist man nicht mit Erdoğans Politik einverstanden.
Deutschtürkisch nicht für Anfänger!
Die Geschehnisse um Dilek bzw. Kangal1210 werden in personaler, sich rapide abwechselnder Sicht geschildert. Dialoge und Figureninnenschauen gehen fließend ineinander über. Die größte sprachpoetische Stärke des Buchs liegt in der Amalgamierung von deutscher und türkischer Sprache, die jedoch zugleich eine Barriere darstellt. Die vielen türkischen Formulierungen werden allenfalls selten kontextualisiert, sodass man als Nichtkenner der türkischen Sprache viele der Aussagen nicht versteht. Gut, dass Baba und Anne Vater und Mutter sein sollen, kann ich mir auch noch aus dem Kontext herleiten. An anderen Stellen wäre sicherlich von Verlagsseite die Bereitstellung eines Glossars wünschenswert gewesen, wie es heute in vielen Büchern Usus ist. Abseits der bereits erwähnten Tiermetaphorik zeichnet sich die einfach gehaltene Sprache durch ihre Alltagsnähe aus und unterstützt atmosphärisch die Handlung.
Das Verschmelzen der zwei Sprachen ist natürlich nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Deutsche, Türken und deren Kulturen seit der Nachkriegszeit eine rege Austauschbeziehung unterhalten. Die Romanseiten bevölkern die „richtigen“, in der Türkei lebenden Türken; die sich für „richtige“ Türken haltende Türken, die aber lieber in Deutschland leben; und natürlich die Deutschen, die „die Türken“ für eine homogene Masse halten. Gerade die zweite und dritte Gruppe kommen in Kangal schlecht weg. Während die in Deutschland lebenden Türken zum Großteil ihr „Heimatland“ (also die Türkei) verherrlichen und Erdoğans Machtbasis bilden, erwarten Deutsche eine ablehnende Haltung von Türken gegenüber dem Diktator vom Bosporus. Dabei verkennen letztere die Gefahr, in die sich Türken begeben, positionieren sie sich offen gegen das türkische Regime, denn auch in Deutschland sind sie der Gefahr von Gewalt ausgesetzt.
Kangallar gegen Bozkurtlar – ein Kampf ums Überleben
Dileks Katz-und-Maus-Spiel mit der türkischen Diktatur bewegt sie zur Flucht aus der Türkei nach Deutschland. In der Türkei lässt sie ihren Freund Tekin zurück, der nicht zu fliehen bereit ist. In Deutschland trifft Dilek auf ihre Cousine Ayla, die seit geraumer Zeit in Deutschland lebt und den Putsch im Jahr 2016 nur aus der Ferne erlebt hat. Aufgrund eines Streits ihrer Annes (also ihrer Mütter) haben sich die Beiden lange nicht gesehen. Trotz ihrer eigentlichen Verbundenheit trennen sie die Erfahrungen unter einer Diktatur und das Wissen darum, dass man sich aus der Politik in der Türkei nicht einfach heraushalten kann. Es gibt nicht nur die Putschisten und die Erdoğan-Treuen, sondern eben auch Regimekritiker, die gewaltlos Missstände anprangern und dafür Verfolgung ausgesetzt sind. Kann ein Kangal seine Herde nicht nur vor Ort gegen die Wölfe beschützen? Doch wie viel kann ein einzelner Kangal gegen ein ganzes Rudel aussetzen? Dileks mögliche Heimreise ist ein Politikum wie auch der gesamte Roman.
Mit dem politisch brisanten Thema hat es Schentkes Debütroman auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Eine Anwärterin auf den Titel ist sie für mich aber nicht: Der Roman ist zeitgeschichtlich zwar enorm relevant, bietet aber kaum literarischen Tiefgang abseits der Vermischung von deutscher und türkischer Sprache. Das tut dem Wert dieses Romans jedoch keinen Abbruch.
Anna Yeliz Schentke: Kangal. Roman
S. Fischer Verlag, 208 Seiten
Preis: 21,00 Euro
ISBN: 978-3-10-397081-4
Das klingt nach einem Buch welches ich gern lesen würde
Das kann ich Ihnen nur empfehlen!
Viele Grüße
Thomas
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