Linke Politik und Eugenik um 1900

H. G. Wells (18661946) um 1890; Fotograf: Frederick Hollyer

Der Traum von einer genetisch perfektionierten Menschheit ist ein (pseudo-)
wissenschaftliches Modethema um die Jahrhundertwende. Quer durch das politische Spektrum hinweg denkt man dabei gern in Extremen. Besonders die Eugenik mausert sich in diesen Jahren zu der Paradedisziplin für die vermeintliche Verbesserung der Menschheit – zu Ungunsten von Mitmenschen, die als nicht lebenswert erachten werden. Ein Warnruf anhand des Geburtstagskinds H. G. Wells, der der Eugenik selbst ambivalent gegenüberstand.

von THOMAS STÖCK

In einem Porträt zu Francis Galton vom 23. Februar erwähnte ich ihn bereits, nun ist auch sein Geburtstag ein paar Tage her: Herbert George „H. G.“ Wells erblickte am 21. September 1866 das Licht der Welt. Seine dystopische Scientific Romance, so von Wells selbst getauft, unter dem Titel The Island of Doctor Moreau rückte ich in diesem Beitrag in ein positives Licht. Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten. Und auch diese Schattenseiten müssen ausgeleuchtet werden. Im Falle von H. G. Wells ist damit insbesondere sein Verhältnis zur Eugenik gemeint. Wenn Sie meinen Beitrag zu Francis Galton gelesen haben (oder dies zum jetzigen Zeitpunkt fix nachholen), dann dürfte Ihnen aufgefallen sein, dass es auch in The Island of Doctor Moreau um Eugenik ging und ich Wells als positives Beispiel dafür angeführt habe, wie kritisch mit ihr umgegangen wurde. Wie passt dies damit zusammen, dass ich nun kritisch mit Wells’ Sichten zur Eugenik ins Gericht gehe?

Die Eliminierung von „unwertem“ Leben aus dem Genpool

Nun, dies ist der Tatsache geschuldet, dass es zwei Varianten von Eugenik gibt. Die in The Island of Doctor Moreau geschilderte positive Eugenik zielt darauf ab, durch genetische Veränderungen einen positiven Evolutionsprozess zu forcieren. Im Roman geht es darum, dass aus Tieren Menschen erschaffen werden sollen. Dieser Variante von Eugenik stand Wells ablehnend gegenüber. Der zweiten Variante, der negativen Eugenik, stand Wells hingegen positiv gegenüber. Darunter zu verstehen ist das „Eliminieren schädlicher Elemente“ aus dem Genpool, sei es durch Sterilisierung, sei es durch Euthanasie. Dies wird auch an einer Rede deutlich, die Wells im Zuge einer Besprechung einer Publikation aus der Feder Francis Galtons hielt, in der er eine Abkehr von positiver Eugenik hin zu ihrem negativen Gegenstück predigt. Er glaube, so Wells, eine bewusste Selektion der Besten für den Reproduktionsprozess werde immer unmöglich sein:

„The way of nature has always been to slay the hindmost, and there is still no other way, unless we can prevent those who would become the hindmost being born. It is in the sterilization of failure, and not in the selection of successes for breeding, that the possibility of an improvement of the human stock lies.“

Es ist eine menschenfeindliche Sicht, die sich unter dem Deckmantel der Rationalität anmaßt, über wertes und unwertes Leben zu entscheiden. Diese Überlegungen reichen bis zu genozidalen Gedankenspielen:

„Suppose, now, there is such a thing as an all-round inferior race. Is that any reason why we should propose to preserve it for ever in a condition of tutelage? Whether there is a race so inferior I do not know […]. There is only one sane and logical thing to be done with a really inferior race, and that is to exterminate it.“

Einheitsbrei im Politspektrum

Dieser Logik folgend hätten die Nationalsozialisten, die in den Juden „an all-round inferior race“ sahen, absolut richtig gehandelt. Es ist erschütternd, dass ein solch menschenfeindliches Gedankengut keineswegs auf eine kleine, aber laute Minderheit begrenzt war, sondern über politische Parteigrenzen und alle Schichten hinweg Anklang fand. Ob Sie nun H. G. Wells lesen oder Jack London, so finden sich manch erschütternde Parallele zu nationalistisch-völkischen Autoren wie Ernst Jünger oder den Hitler’schen Hofdichtern. Damit möchte ich nicht H. G. Wells mit einem dieser Autoren gleichsetzen – es wird aber ein Stück weit ersichtlich, dass die Extreme links und rechts im Spektrum verschwimmen können. So wird auch nachvollziehbar, wie George Orwells 1984 sowohl als Allegorie auf faschistische wie auf kommunistische Regime gelesen werden kann. Die menschenfeindlichen Vernichtungsfantasien sind ihnen beiden inhärent.

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