Zur Eröffnung der Spielzeit 2022/23 wagt die Oper Köln, noch immer im StaatenHaus am Rheinpark in Deutz untergebracht, die Neuinszenierung eines hierzulande selten aufgeführten Stückes: Les Troyens – Die Trojaner von Hector Berlioz. Ein antiker Stoff, opulent und mitreißend, nicht ganz so lang wie Wagners Ring und dennoch ein vergleichbares musikalisches Epos. Dirigent Francois-Xavier Roth und Regisseur Johannes Erath machen die Kölner Produktion zu einer Sternstunde des Repertoires. Man wird die Opernhäuser in der Region an diesem künstlerischen Niveau messen dürfen.
von HELGE KREISKÖTHER
Hector Berlioz (1803–1869) hatte zu Lebzeiten zunächst keinen Erfolg als Opernkomponist: Sein Erstling Benvenuto Cellini (1838), ein gleißend instrumentierter Dreiakter über den gleichnamigen Goldschmied und Bildhauer der Renaissance, war ein Reinfall; die 20 Jahre später entstandenen Trojaner – Les Troyens überforderten vor allem das Vorstellungsvermögen gewisser Intendanten und wurden daher erst 1890, also posthum, zum ersten Mal vollständig aufgeführt. Nur seine letzte humoristische Oper Béatrice et Bénédict (nach Shakespeares Viel Lärm um nichts) reüssierte auf Anhieb beim zeitgenössischen Publikum. Heute kann man zumindest die als „dramatische Legende“ übertitelte Quasi-Oper La damnation de Faust (nach Goethe, allerdings sehr frei nach Goethe, da die Handlung teilweise nach Ungarn verlegend) auch außerhalb Frankreichs häufiger konzertant oder halb-szenisch erleben. In jedem Fall lohnt es sich, den Klangfarbenzauberer Berlioz nicht nur als Komponisten der rauschhaft-schaurigen Symphonie fantastique (1830), sondern eben auch als Protagonisten des romantischen (französischen) Musiktheaters zu entdecken.
In etwa zeitgleich mit Richard Wagners zukunftsweisendem Musikdrama Tristan und Isolde entstanden, verfasst Berlioz genau wie sein zehn Jahre jüngerer Konkurrent das Libretto und die Komposition von Les Troyens selbst, also ohne die Hilfe eines Librettisten oder einer Librettistin. Die zwei Teile der Oper, La prise de Troie (Die Einnahme Trojas) sowie Les Troyens à Carthage (Die Trojaner in Karthago), gliedern nicht nur die lange Handlung, die übrigens ohne Götterfiguren auf der Bühne auskommt – in der Kölner Inszenierung sieht man diese dennoch, und zwar als stumme, dekadent-senile Meute –, sondern präsentieren auch unterschiedliche musikalische Stile: Während der erste Teil an den älteren bzw. klassischen tragédies lyriques Christoph Willibald Glucks orientiert ist, erinnert der zweite Teil eher an die zeitgenössische Meyerbeer’sche Grand Opéra (ohne deren ‚billige Effekte‘). Das Sujet wiederum hat Berlioz weitestgehend der Aeneis des römischen Dichters Vergil entnommen: Troja wird trotz der Prophezeiungen Kassandras mittels einer List, nämlich des berühmten hölzernen Pferdes, von den Griechen erobert und niedergebrannt; nur Aeneas gelingt mit einigen Getreuen die Flucht, denn er ist auserwählt – und vom Schatten (Geist) Hektors beauftragt –, in Italien eine neue Stadt (Rom) zu gründen. Als sie in Karthago eintreffen, verliebt er sich in die hier herrschende Königin Dido; nachdem Aeneas den feindlichen, um sie werbenden Iarbas in die Flucht geschlagen hat, ist das Liebesglück der beiden jedoch nur von kurzer Dauer, denn der Sohn der Venus muss Dido schon bald wieder verlassen, um in seiner Mission weiterzuziehen. Daraufhin erdolcht (in Köln: vergiftet) sich die karthagische Königin in ihrem unsagbaren Liebesschmerz und verflucht Aeneas mitsamt seinem künftigen Volk.
Wenngleich sie tragisch scheitern und sterben müssen: Cassandre (Kassandra) und Didon (Dido) sind die eigentlichen – weiblichen – Heldinnen der Oper Les Troyens, die von Berlioz noch wesentlich intensiver gezeichnet werden als bei Vergil. Apropos: Im Frühjahr 1858 hat der Komponist sein Textbuch Wagner gewissermaßen zur Probe vorgelesen – der äußerte sich aber natürlich nicht sehr wohlwollend.
Leuchtender Catwalk ohne Staub der Antike
Johannes Erath führte in Köln bereits Regie in Gounods Faust, Massenets Manon und L’amour de loin von Kaija Saariaho – französisches Musiktheater scheint ihm offenkundig zu liegen. Für die ungekürzten Troyens entwickelt er viele eindrückliche, von Licht-, beinah möchte man sagen: Leuchtstimmungen getragene Szenenbilder (Licht: Andreas Grüter). Dabei spielt das Orchester gewissermaßen die Hauptrolle an diesem Abend: Kreisförmig in der Mitte und jederzeit für die Zuschauenden sichtbar platziert, stellen die Musiker:innen des Gürzenich-Orchesters ihr Können unter Beweis – rechts ab erweitert um das wunderschöne (und seltene) Bild von sechs Harfen. Die Sänger:innen bzw. Darsteller:innen laufen auf einem rotierenden und hell leuchtenden lagerfeldschen Catwalk mitsamt ihren Accessoires um dieses klingende Rund herum bzw. präsentieren hierauf ihre großen Arien, Duette und Ensembles. Im Hintergrund, wie abgeschnitten und mit halb geöffnetem Mund daliegend, das Gesicht eines riesigen männlichen Marmorkopfes, dessen Augen nur gegen Ende einmal kurz ‚zum Leben erweckt‘ werden (Bühne und Kostüme: Heike Scheele; Video: Bibi Abel).
Weiterhin besticht die Inszenierung durch eine intensive Farbgebung vor allem der Kostüme und Requisiten – glänzende schwarze Stoffe, Haare (Perücken), Schmuckstücke, Blumen usw. kontrastieren mit ebenso glänzenden weißen oder pinkfarbenen –, durch eine kluge Balance aus zeitlosen und historisierenden Elementen und durch eine dezente leitmotivische Symbolik – sei es das verhängnisvolle Pferd, ein Schachbrett oder die Badewanne, in welcher Didon schließlich ihren Tod findet. Manchmal wähnt man sich in einer pseudo-rokokohaften Ausstattung wie in Sofia Coppolas Film Marie Antoinette (mit Kirsten Dunst), etwa wenn die Götter und Göttinnen zu entsprechenden Tableaux vivants erstarren. Manchmal wird dagegen die Referenz an die glamourösen 1920er Jahre offenkundig, wenn die Karthager:innen ihrer Königin im The Great Gatsby-Look zujubeln und dabei aussehen wie das Strandvolk, das in Viscontis Verfilmung von Der Tod in Venedig den Lido bevölkert.
Beeindruckend vielseitige Klänge
Mit dem Gürzenich-Orchester, dem Chor und Zusatzchor der Oper Köln (Einstudierung: Rustam Samedov) stehen Generalmusikdirektor François-Xavier Roth hervorragende Klangkörper zur Verfügung. Der Franzose, der 2003 das historische Ensemble Les Siècles gründete und sich seit 2017 zudem Principal Guest Conductor des London Symphony Orchestra nennen darf, gilt durchaus als Berlioz-Experte, führte er doch bereits in der vergangenen Spielzeit die erwähnte Opéra-comique Béatrice et Bénédict mit den Musiker:innen der Kölner Oper auf. Und so liegt auch die musikalische Leitung der Troyens bei Roth in den allerbesten Händen: Zwischen den überwältigenden, festlichen, hochvirtuosen (vor allem: Holzbläser, Trompeten) und groß besetzten Passagen (wiederkehrend: der Marche des Troyens), schenkt er den nicht minder zahlreichen dynamischen Abstufungen, harmonischen-klanglichen Schattierungen und lyrisch zerfließenden Momenten die gebührende Aufmerksamkeit. Der orchestrale und vokale Detailreichtum dieser Partitur wird somit in seiner ganzen Bandbreite nicht nur hör-, sondern erlebbar: vom Pathos der Volksszenen bis hin zur Zerbrechlichkeit der einsam Zurückgelassenen.
Ohne die ausgezeichneten Sänger:innen der Kölner Oper wäre ein solches Stück natürlich nicht zu realisieren – und dieses Lob schließt nicht nur die Solist:innen, sondern das gesamte, auch szenisch grandios disponierte Chor-Kollektiv mit ein. Die gleichermaßen intensive wie stilistisch sichere Cassandre von Isabelle Druet – diese Oper ist ja ein Fest für beeindruckende Mezzo-Partien – brilliert im ersten Teil (von den zwei Teilen der Oper bzw. den drei Teilen des Kölner Abends). Sie stellt sich keineswegs divenhaft in den Vordergrund, sondern verschmilzt so glaubwürdig mit der Szene, dass es einem Schauer über den Rücken jagt, wenn Cassandre am Ende des zweiten Akts mit ihren Frauen in den Freitod geht, um nicht zur Beute der Griechen zu werden. Viele weitere interpretatorische Highlights können an dieser Stelle schon aus Platzgründen – und da man allzu leicht den Überblick verlieren könnte – gar nicht angeführt werden. In jedem Fall ist die Produktion bis in die Nebenrollen hinein hervorragend besetzt: Exemplarisch genannt seien die emotionale Deutung der Anna (Didons Schwester) von Adriana Bastidas-Gamboa oder der glasklare Sopran von Giulia Montanari als Ascagne (Sohn des Énée). Und das vergleichsweise bekannte, im schönsten Wortsinne weltfremde Liebesduett von Didon und Énée am Ende des vierten Akts, Nuit d’ivresse et d’extase infinie (auf Deutsch sehr prosaisch: Nacht der Trunkenheit und der endlosen Ekstase), gelingt dank der wunderbaren Gesangsstimmen von Veronica Simeoni (Mezzosopran) und Enea Scala (Tenor; in einem Rollendebüt) zu einem Wonnemoment, den man allemal mit der Version von Tatiana Troyanos und Plácido Domingo (an der New Yorker MET, 1983) vergleichen darf.
Zur Eröffnung einer Spielzeit sind Les Troyens, wie auch die Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker in einem etwas holprigen Grußwort erwähnte, ein echter ‚Paukenschlag‘. Festliche- bzw. Feierstimmung gibt dieses überaus tragische Werk zwar nur in wenigen Handlungsmomenten her (ganz zu Beginn, als das – vermeintliche – Ende des Trojanischen Krieges bejubelt wird, sowie in einigen weiteren tänzerischen Szenen), doch tut dies der Begeisterung des nach fünf Stunden (inklusive zweier ausgiebiger Pausen) zweifellos erschöpften Premierenpublikums keinen Abbruch. Außerdem setzt die Wahl von Les Troyens durchaus ein programmatisches Zeichen als Auftakt für die Intendanz von Hein Mulders. An dessen voriger Wirkungsstätte, dem Essener Aalto-Musiktheater, hatte übrigens am selben Abend eine Neuinszenierung von Wagners Tannhäuser Premiere …
Informationen zur Inszenierung: https://www.oper.koeln/de/programm/les-troyens-die-trojaner/6154
Nächste Vorstellungen:
Mittwoch, der 28. September
Samstag, der 1. Oktober
Montag, der 3. Oktober