Am 29. September 1547 erblickt Miguel de Cervantes das Licht der Welt. In den Jahren 1605 und 1615 entspringen seiner Feder zwei Bücher, die bis heute Leser um den gesamten Globus begeistern. In ihnen schwingt sich der Büchernarr im wohl ureigensten Wortsinn Don Quijote dazu auf, den Helden seiner Ammenmärchen nachzueifern. Dabei stößt er auch auf ein Buch, das von ihm selbst erzählt. Dieses spannende Zeugnis von Metaliteratur stellen wir heute ins Rampenlicht.
von THOMAS STÖCK
Don Quijote von der Mancha gilt unter vielen Literaturwissenschaftlern als der erste moderne Roman der Literaturgeschichtsschreibung. Unser heutiges Geburtstagskind Miguel de Cervantes versteht es vorzüglich, mit viel Humor, einem breiten Fundus an literarischen Bezugstexten sowie einem unverstellten Blick auf die Lebensrealität auf dem spanischen Land des ausgehenden 16. bzw. aufkommenden 17. Jahrhunderts den Möglichkeitsraum des Romans so weiträumig abzustecken, dass erst einige Jahrhunderte später das Erzählrad neuerfunden werden musste. Gestatten Sie mir noch eine letzte Schwärmerei, bevor ich auf mein eigentliches Thema zu sprechen komme: Und zwar muss ich noch die hervorragende Neuübersetzung von Susanne Lange erwähnen, die den Wortwitzreichtum auf ein verständliches Niveau für heutige Leser befördert und die zugleich Cervantes’ hohes poetisches Vermögen farbenreich umsetzt.
Die blühende Fantasie eines einsamen Mannes
Don Quijote ist neben den vielen Abenteuern vor allen Dingen ein Buch: nämlich eins übers Lesen. Der abgehalfterte, kinder- und frauenlose Hidalgo Don Quijote flüchtet sich im ersten der beiden Romanteile aus seiner einsam-traurigen Realität in eine schon im 16. Jahrhundert längst vergangene Zeit, als Ritter in voller Rüstung durchs Land zogen und ehrenwerte Taten verrichteten. Dass diese zum Teil ins Reich der Fabel gehören, ficht Don Quijote dabei nicht an – er will selbst ausziehen und seiner geliebten Dulcinea den Hof machen, während er vermeintlich Drachen erlegt und in Wirklichkeit gegen Windmühlen und ähnlich furchterregende Gegner kämpft.
Der Hidalgo Don Quijote geht den fiktionalen Geschichten auf den Leim, denn für ihn gibt es keine Trennlinie zwischen dem, was war, und dem, was erzählt wird. Die Menschen in seiner Umgebung, allen voran sein treuer Begleiter Sancho Panza, spielen häufig – mehr oder minder bereitwillig – ihre Rolle in den Fantastereien des ältlichen Mannes. Manche tun dies, um Don Quijote auf die Schippe zu nehmen, andere wollen ihm seine Illusion nicht nehmen, wieder andere versuchen sich sogar daran, den fiktionalen Faden so weit fortzuspinnen, dass Don Quijote zurück in die Realität eintreten kann. Mit zweifelhaftem Erfolg, wie der zweite Teil und der neuerliche Ausflug unseres Hidalgos beweist.
Don Quijote stößt auf einen Roman über Don Quijote
Nach diesem Vorspiel möchte ich Ihren Blick nun auf einen anders gearteten Leseprozess lenken. Der zweite Teil des Don Quijote wurde nämlich erst zehn Jahre nach dem ersten Teil fertiggestellt. In der Zwischenzeit war ein zweiter Teil des Don Quijote entstanden, der nicht Cervantes’ Feder entschlüpft war: Dieser Text ist unter dem Pseudonym Alonso Fernández de Avellaneda herausgebracht worden – und lässt Don Quijote sowie seinen Autor in keinem guten Licht dastehen. Diese Respektlosigkeit, die Geschichte eines Anderen fortzuführen und durch den Dreck zu ziehen, kann Cervantes natürlich nicht auf sich sitzen lassen. Es ist nicht das erste Mal, dass der spanische Weltliterat sich mit einem Zeitgenossen anlegt. Besonders mit dem Theaterautor Lope de Vega geriet Cervantes immer wieder aneinander – Vega hatte Erfolg, Cervantes nicht.
Aber zurück zu Avellaneda und seinem Don Quijote-Nachfolger: Cervantes lässt seinen Hidalgo im 59. Kapitel des zweiten Teils in einem Wirtshaus zwei Ritter überhören, die Avellanedas Buch zur Hand haben. Der Eine erwidert auf die Frage, ob sie in dem Buch lesen könnten: „‚Weshalb wollt ihr solch Unfug lesen, Herr Don Juan […]?‘“ Dieser entgegnet, man solle ihn lesen, „‚denn kein Buch ist so schlecht, dass es nicht etwas Gutes hätte‘“. Als Don Quijote überhört, in dem Buch sei geschrieben, er habe seiner geliebten Dulcinea abgeschworen, da gerät er in Rage und mischt sich in das Gespräch ein. Die Ritter erkennen in ihm Don Quijote und überlassen ihm das Buch. Nach wenigen durchgeblätterten Seiten gibt er es zurück mit den nachfolgenden Worten. „‚So wenig musste ich lesen, und schon sind mir bei dem Verfasser dreierlei tadelnswerte Dinge aufgestoßen. Zum Ersten ein paar Worte in der Vorrede, zum Zweiten die aragonesische Mundart […], und zum Dritten – und da entlarvt er sich am deutlichsten als Ahnungsloser –, dass er bei der Geschichte im Wesentlichen irrt und von der Wahrheit abweicht […].‘“
„‚… bei dem ist zu befürchten, dass er auch bei allem anderen in der Historie irrt‘“
Don Quijote spielt auf den veränderten Namen von Sancho Panzas Frau an, die in Avellanedas Ausgabe den Namen Mari Gutiérrez trägt. Tatsächlich fiel dieser Name aber schon im ersten Teil, der aus Cervantes’ Feder fand – neben anderen Namen für Sancho Panzas Frau. Gerade diese vermeintliche Ungenauigkeit wurde Cervantes von der Kritik auch vielfach vorgeworfen, hier münzt er sie durch sein Sprachrohr Don Quijote in Kritik um: „‚Wer in einem so entscheidenden Punkt irrt, bei dem ist zu befürchten, dass er auch bei allem anderen in der Historie irrt.‘“ Mit diesen wenigen Worten wird Avellanedas Buch abgekanzelt und den Richterhammer schwingt Don Quijote höchstselbst.
Cervantes führt uns so nicht nur vor Augen, wie umkämpft die Literaturbranche im beginnenden 17. Jahrhundert war, sondern zeigt auch das Potenzial von Metaliteratur auf: Was passiert eigentlich, wenn eine Figur erfährt, dass sie eine Figur ist? In Don Quijotes Fall ist diese Entdeckung folgenlos, weil er, der sonst in die Fallstricke der Fiktion gerät, hier schnell Avellanedas Roman als ein Hirngespinst entlarvt. Es muss eine anders geartete Literatur sein, die die Grenzen von Fakt und Fiktion verschwimmen lässt. Erst dieser Literatur obliegt es, aus Windmühlen feindliche Krieger auferstehen zu lassen.
Meine Empfehlung:
Miguel de Cervantes: Don Quijote von der Mancha. Gesamtausgabe in einem Band. Neu übersetzt von Susanne Lange
dtv Verlag, 791 Seiten
Preis: 19,90 Euro
ISBN: 978-3-423-14469-8
Ich hatte vor einiger Zeit einmal eine KI-gestützte Stilanalyse gefunden, die nahe legt, der Autor des falschen Quixote sei möglicherweise ebenfalls Cervantes. Finde den Text leider gerade nicht wieder.
Danke für den Hinweis! Spielen Sie vielleicht auf Nanette Rißler-Pipkas Stilometrie-Untersuchung an? In dem Fall habe ich einige Folien eines Vortrags auffinden können: https://www.uni-siegen.de/phil/romanistik/mitarbeiter/rissler-pipka_nanette/files/der_falsche_quijote-dhd2016-n-r-p.pdf
Die stilometrische Analyse basiert in diesem Fall auf einer Software, nicht auf einer Künstlichen Intelligenz. Es werden also nur mathematische Berechnungen aus dem Bereich der Statistik durchgeführt und visualisiert. Der Begriff „KI-gestützt“ wäre (sofern Sie sich auf diesen Beitrag beziehen) in meinen Augen deplatziert, weil er eine Leistungsfähigkeit suggeriert, die R gar nicht leisten kann.
Frau Rißler-Pipkas Ausführungen sind beeindruckend, ich würde die stilistische Nähe jedoch nicht so interpretieren, dass alle drei Quijotes aus derselben Feder stammen. Frau Rißler-Pipkas Schlussfolgerung ist zaghaft formuliert, was nach meiner Erfahrung damit zusammenhängt, dass die stilometrische Autorschaftsattribuierung gerade in Fällen mit geringer Datenlage äußerst umstritten ist.
Die am Ende ihrer Vortragsfolien aufgeworfene Frage „ist es ihm zuzutrauen, sein eigenes Plagiat zu verfassen?“ würde ich persönlich mit Nein beantworten. In meinen Augen ergibt es keinen Sinn, zwei zweite Teile zu schreiben, die sich in ihrer inhaltlichen Ausgestaltung (bspw. in der Darstellung des Don Quijote) so stark widersprechen. Mir leuchtet auch nicht ein, warum der 2.1 Teil den 1. Teil so stark kritisiert und der 2.2. Teil gleichermaßen mit dem 2.1. Teil verfährt, wenn Cervantes ein Interesse daran haben sollte, dass alle drei Teile gelesen werden.
Ich denke eher, eine durch R aufgezeigte Korrelation zweier Texte lässt nicht zwingend Rückschlüsse über die Autorschaft zu. Immerhin versucht Avellaneda, Cervantes nachzueifern. Da erscheint es (zumindest mir) auch logisch, dass er sich stilistisch am Vorbild orientiert. Gegen die Auswertung der in R erhobenen Daten hätte ich auch noch den einen oder anderen kritischen Punkt anzuführen, wobei ich mich da nur auf die Folien beziehen könnte. Ich denke, da ist es sinnvoller, Frau Rißler-Pipka zugute zu halten, dass sie in ihrem Vortrag anders mit den Daten umgegangen ist, als es die Folien suggerieren.
In jedem Fall ist die Stilometrie ein sehr interessantes Feld, wobei es leider noch ein wenig in den Kinderschuhen stecken geblieben ist. Auf die weiteren Errungenschaften auf diesem Gebiet bin ich in jedem Fall sehr gespannt!
Thomas Stöck
Ja, ich habe jetzt auch nur diesen Essay gefunden. Damals hatte ich noch einen anderen, der entweder diese Daten anders oder andere Daten interpretiert. Wäre natürlich ein ziemlich bekloppter Böhmermann-artiger Stunt, so einen dritten Roman zu schreiben.
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