Handlungsarmut versus Gedankenflut

Kristine Bilkau: Nebenan; Cover: Luchterhand

Nach ihrem preisgekrönten Debütroman Die Glücklichen ist Nebenan Kristine Bilkaus dritter Roman. Wer auf der Suche nach mitreißenden Spannungsbögen ist, sucht in Bilkaus handlungsarmem Roman lange. Dafür besticht er durch eine detaillierte Beschreibung der Gedanken- und Gefühlswelten der Figuren.  Nun hat er einen Platz auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2022.  

von SASKIA BRÜNGER

Nebenan von Kristine Bilkau wird aus den Perspektiven zweier Frauen erzählt, die sich in komplett unterschiedlichen Phasen ihres Lebens befinden und auch sonst scheinbar wenig gemeinsam haben. Julia, 38 Jahre alt, ist mit ihrem Ehemann Chris vor nicht allzu langer Zeit in ein namenloses Dorf am Nord-Ostsee-Kanal gezogen. In der Nachbarstadt hat sie sich einen lang gehegten Traum erfüllt und ein eigenes Keramikgeschäft eröffnet. Noch größer ist jedoch schon seit geraumer Zeit ihr Kinderwunsch, weshalb sie und ihr Mann mittlerweile in einer Kinderwunschpraxis in Behandlung sind. Die andere Protagonistin ist Astrid, die Anfang sechzig ist und schon immer in der Umgebung des Dorfes gelebt hat. Sie ist in der Straße aufgewachsen, in der noch heute ihre Tante Elsa und nun auch Julia wohnen. Sobald sie einen Arzt/eine Ärztin findet, der/die ihre Praxis übernimmt, will sie in den Ruhestand gehen. Zusammen mit ihrem Ehemann Andreas hat sie drei erwachsene Kinder, die bereits alle weit weggezogen sind und teilweise schon eigene Familien gegründet haben. Unweigerlich stellt man sich die Frage, was die beiden Frauen miteinander verbindet und warum der Roman aus den Perspektiven der beiden erzählt wird. Das primäre Bindeglied ist eine Frau namens Mona Winter. Sie ist die Nachbarin von Julia und Tante Elsa, und schon zu Beginn des Romans mit ihren Kindern und ihrem Ehemann wochenlang spurlos verschwunden. Während Julia sich bereits nach kurzer Zeit der Abwesenheit ihrer Nachbarn Sorgen macht, bemerkt wenig später auch Astrid, dass etwas vorgefallen sein muss. Neben den beiden scheinen nur Elsa und ein mysteriöses Kind, das Julia eines Tages im Garten der Winters entdeckt, das Verschwinden der Familie bemerkt zu haben.

Neben- statt Miteinander

Die Figuren leben neben- und nicht miteinander. Weder Astrid noch Julia vertrauen sich in brenzligen Situationen jemand anderem an. So erzählt Astrid zum Beispiel niemandem von den Drohbriefen, die an ihre Arztpraxis gesendet werden. Stattdessen legt sie sie in eine Schublade und öffnet sie erst wieder, als viele weitere Briefe folgen. Julia hingegen droht, unter dem selbst- und fremdgemachten Druck, endlich schwanger zu werden, zusammenzubrechen. Doch aus Angst, der Kinderwunsch sei für ihren Ehemann wesentlich geringer oder aber so stark, dass er sich von ihr trennen könnte, vertraut sie sich ihm nicht an. Stattdessen flüchtet sie sich in die Scheinwelten der sozialen Medien, in denen sich Familien inszenieren und ihren scheinbar perfekten Alltag, den sich Julia sehnlichst wünscht, mit der Welt teilen. Auch wenn sie der Meinung ist, „ein unfreundliches Wort bekomm[e] Gewicht, wenn es von Stille umgeben ist“, widerspricht sie dennoch nicht, wenn sie ein solches wahrnimmt. Die Kommunikation, die unter den Figuren tatsächlich stattfindet, wirkt zeitweise aufgesetzt und unnatürlich. So fasst Chris etwa in einem Gespräch mit Julia, in dem sie ihm ihre Sorge um Familie Winter offenbart, zusammen, dass sie Familie Winter „nicht besonders gut“ kannten und, dass sie selbst mittlerweile sechs Monate in ihrem neuen Haus wohnten – zwei Tatsachen, denen Julia sich sicherlich bewusst ist. Während man beim Lesen des Romans also beinahe verzweifelt, weil viele der Konflikte und Probleme der Figuren durch einfache Kommunikation in kürzester Zeit lösbar gewesen wären, spielt die Autorin abseits der direkten Kommunikationsebene immer wieder förmlich mit der Sprache. Spielerisch wird der Umgang mit der Sprache in Momenten, in denen die Figuren in Gedanken versunken sind. Insbesondere in diesen handlungsarmen Momenten wird also der einfache und dennoch beeindruckende Schreibstil Bilkaus deutlich. Dann verwendet sie zum Beispiel Wörter, die nicht nur die Protagonistinnen lange nicht gehört haben, wie Hoffart und Fernmeldegeheimnis. Durch Elsas besondere Aussprache, die Wörter zu trennen scheint, gewinnen Wörter wie der „Un-Fall“ zudem eine neue Bedeutung, über die sowohl Julia als auch Astrid jeweils lange nachdenken. Außerdem lässt sie Sätze, die aus den Drohbriefen an Astrid stammen oder Julia als Kommentare zu ihrem unerfüllten Kinderwunsch ertragen muss, unvollendet. Sie wiegen so schwer, dass selbst die Erinnerungen an diese Bemerkungen daran nicht vollendbar sind.

Übervolle Leere

Während das Verschwinden der Familie Winter für die Verbindung der Geschichten beider Frauen zentral ist, scheint es im Roman selbst eine eher nebengeordnete Rolle zu spielen. Bei Nebenan handelt es sich, wie es dieses Verschwinden zunächst nahelegt, jedoch nicht um einen Kriminalroman. Zentral ist vor allem eine Leere, die unüberwindbar scheint, sowohl in den Personen selbst als auch im Haus der Familie Winter und in den Wohnhäusern der Figuren sowie dem Zentrum der Kleinstadt. Gebäude werden personifiziert, sodass etwa Zimmer als „wartend“ beschrieben werden. Gegen das Innenstadtsterben wünscht Astrid sich etwas „mehr Leben in den Straßen, das wäre schön“. Kontrastiert wird diese Leere mit diversen übervollen Gegenständen und Orten. Da wäre der überfüllte Briefkasten am leeren Haus der Winters und die übervolle Speisekammer der alleinlebenden Elsa. Auch die überfüllten Großstädte, die als entgegengesetztes Extrem zu der leeren Kleinstadt ebenfalls nichts Gutes verheißen. Dies resultiert in einem Trend zur Stadtflucht, wie sie im Falle von Julia und Chris sichtbar wird. Auch das Zögern vor gewissen Handlungen und das spätere Bereuen, etwas nicht eher getan zu haben, was beiden Frauen wiederholt passiert, ist ein zentraler Bestandteil des Romans. Durch ihr Zögern gefährdet Astrid etwa die Freundschaft zu Marli, einer ehemaligen Nachbarin, die plötzlich wieder aufgetaucht ist. Gezögert wird außerdem bei der Suche nach den Winters und dem Grund ihres Verschwindens. Andererseits ist das Zögern eben auch etwas, mit dem sich vermutlich ein Großteil der Leserschaft identifizieren kann. Es scheint, als sei das Nichthandeln zentral für diesen Roman und damit für den Roman gar wünschenswert, dass vieles unaufgelöst bleibt. Nicht die Handlung, sondern die Gedanken und Gefühle der Protagonistinnen sind zentral für den Roman. Es geschieht nicht viel, letztendlich paradoxerweise aber doch zu viel. Neben den Sorgen um Familie Winter und den vielen anderen persönlichen, privaten Konflikten, die vermutlich auch vielen Lesenden nicht unbekannt erscheinen werden, thematisiert Bilkau zudem viele größere, allgemeinere Probleme. Kritisch zu betrachten ist dabei allerdings, dass diese Themen häufig lediglich oberflächlich angeschnitten werden. In wenigen Nebensätzen wird etwa eine Abneigung gegen Trump als Präsident der USA, den Brexit und die AfD angedeutet. Hinzu kommen subtile Hinweise auf Rassismus, Frauenfeindlichkeit und häusliche Gewalt, die Astrid etwa bei einigen ihrer Patientinnen vermutet. Auch der Klimawandel und dessen gravierende Folgen werden immer wieder kurz thematisiert. Es scheint teilweise so, als habe die Autorin möglichst viele Gegenstände zwanghaft thematisieren wollen und wird diesen Gegenständen somit nicht gerecht. Da die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren im Mittelpunkt des Romans stehen, wäre es nicht verwerflich, die die komplette Gesellschaft betreffenden Themen außenvorzulassen. Dem Roman würde es an nichts fehlen, würde man die meisten dieser Bemerkungen entfernen. Stattdessen wäre es an manchen Stellen wünschenswert, die nicht vollendeten zentralen Themen des Romans weiter zu konkretisieren. Die scheinbar grundverschiedenen Frauen Julia und Astrid und auch die weiteren Figuren des Romans bilden gemeinsam in Nebenan ein Spiegelbild der Gesellschaft, das teilweise unangenehm und darum umso wichtiger ist. Einzig die Thematisierung der für den Verlauf dieses Romans eher unwichtigen Probleme zersplittern dieses Spiegelbild.

Kristine Bilkau: Nebenan

Luchterhand, 288 Seiten

Preis: 22,00 Euro

ISBN: 978-3-630-87519-4

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