Der Tod ist ein treuer Begleiter (auto-)biografischen Erzählens. Auch Annabel Wahbas Familienporträt Chamäleon ist aus dem traurigen Anlass entsprungen, dem an Krebs erkrankten Bruder André mit einem Blick auf die eigene Familiengeschichte das Leid zu lindern. Das gelingt der vortrefflichen Erzählerin durch Exkurse in die deutsch-ägyptische Geschichte sowie durch das Aufzeigen der Verflechtungen von zwei auf den ersten Blick differenten Welten.
von THOMAS STÖCK
Als ihr an Krebs erkrankter Bruder im Sterben liegt, beginnt Annabel Wahba sich schriftlich mit ihrer Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Für ihren geliebten André mimt sie Scheherazade aus Tausendundeiner Nacht. Zwar kann sie das Sterben des Bruders wenn auch nicht verhindern, so immerhin durch den Blick auf die gemeinsame Vergangenheit die Schmerzen des Leidenden und seiner Familie lindern. Und diese gemeinsame Vergangenheit ist etwas ganz Besonderes, was sich gerade im Vergleich mit anderen Geschichten offenbart, die auf den ersten Blick ähnlich zu verlaufen scheinen. Heutzutage trifft man vielerorts auf autobiografische oder zumindest autobiografisch inspirierte Migrationsgeschichten, die sich mit der Suche nach der eigenen Identität und dem Nicht-Zuhause-Fühlen in Deutschland auseinandersetzen. In Chamäleon findet man hingegen das Aufgehen einer ägyptischen und einer deutschen Familie in eine gemeinsame Geschichte und eine gemeinsame Identität.
Deutsch-ägyptische Geschichtsstunde
Für Genrekenner dürfte es etwas überraschen, dass Wahba das Erzählen von ihrer Familiengeschichte nicht auch in sprachlicher Hinsicht doppelt ausreizt. Dies ist dem Faktum geschuldet, dass die Autorin schlicht die arabische Sprache nicht gelernt hat. Das ist bedauerlich, gibt es doch einige gelungene Beispiele für diese Spaziergänge durch die eigene Sprachheimat, wie sie uns etwa der irakisch-schweizerische Schriftsteller Usama Al Shahmani mit seinen Büchern bietet, deren Titel sich aus arabischen Sprichwörtern ableiten; oder aber wie wir durch die iranisch-österreichische Autorin Nava Ebrahimi in ihrem Roman Sechzehn Wörter in jedem Kapitel ein neues Wort des Persischen erlernen dürfen.
Doch muss man sich keinesfalls grämen, denn dafür wartet Wahba mit einem umso gelungeneren Streifzug durch die deutsche und die ägyptische Geschichte auf, die durch die beiden Familienstränge immer wieder aufeinandertreffen. Ausgangspunkt ist – wie bei so vielen Familiengeschichten üblich – die großelterliche Generation, die im Falle des deutschen Familienteils im Zweiten Weltkrieg eine Krisenzeit durchlebt, die auch im Familiengedächtnis nachhaltige Wurzeln geschlagen hat. Wahba zeigt hier auf, wie die Großmutter und die Geschwister ihrer Mutter mit dem Tod des Vaters im Jahr 1941 umgehen. Es folgt die Erzählung des ägyptischen Familienteils. Diese setzt unter dem britischen Kolonialregime ein und verfolgt das Schicksal der Familie während der ägyptischen Republikwerdung und dem eskalierenden Konflikt mit Israel. Erschütternde Parallele zwischen deutscher und ägyptischer Familie ist das Erleben von Fliegerbomben, die auf München respektive Kairo geworfen werden. Und auch die ägyptische Familie hat bald den Tod des Großvaters zu beklagen.
Das Sahnehäubchen dieser Verflechtungen, die sich bis in unsere Gegenwart fortsetzen, bildet Wahbas Beziehung zu einem jungen Israeli, dem sie in seine Heimat folgt. In Israel erfährt sie – die in Deutschland bestens integriert ist und so gut wie keine Erfahrungen mit Ausgrenzung oder Rassismus hatte – zum ersten Mal am eigenen Leib, dass ihre arabische Identität problembehaftet sein kann. In Israel werden ägyptische Namen mit Argusaugen beäugt – besonders wenn es sich um Nichtjuden handelt, wie in Wahbas Fall.
Koptisch-katholisches Traditionsbewusstsein zweier Abenteurer
Tatsächlich hat die religiöse Identität der beiden Familienteile wahrscheinlich ein Aufgehen zweier Lebensrealitäten in einer gemeinsamen Familie begünstigt: Die Münchner Großeltern waren bereits streng gläubige Katholiken, eine von Wahbas Tanten hat den Weg in ein Kloster beschritten und auch die ägyptische Familienseite ist eng mit der koptischen Kirche verbandelt. Wahbas Vater engagierte sich ebenfalls nach seiner Ankunft in der koptischen Gemeinde in München. Und auch Wahbas Mutter ehrte die religiöse Familientradition, wenngleich sie und ihr Mann gemeinsam zu den Abenteurern in den eigenen Familienreihen zählen.
Der Vater kann aufgrund eines Stipendienerhalts als Erster in seiner Familie den Schritt über den mittelgroßen Teich wagen und geht zum Studieren nach Deutschland. Wahbas Mutter wiederum begibt sich als Au-Pair-Mädchen über den wirklich großen Teich und landet in New York, wo sie mit der High Society in Kontakte gerät. Dass sich die Wege der beiden Globetrotter doch noch kreuzen, ist hauptsächlich Wahbas Mutter geschuldet, die sich in der wichtigtuerischen Reichenclique in New York nicht heimisch fühlt und in ihre Heimat zurückkehrt. Doch wie die Beiden zueinander fanden, das erzählt Ihnen Wahba am besten selbst!
Annabel Wahba: Chamäleon
Eichborn Verlag, 285 Seiten
Preis: 23,00 Euro
ISBN: 978-3-8479-0097-9