Eine Theaterpremiere, ein neues Stück, ein unverbesserlich erfolgreiches Dramatikerduo, eine Stadt mit Schwebebahn, eine Premierenparty, ein Inhalt, eine Scheindebatte, eine Einsicht, ein halbes Eingeständnis und eine Grundsatzdebatte über die Kunst. Willkommen zum Redekreis in der lesBar!
von NICK PULINA
Servus in die Runde,
was war das neulich für ein Abend. Was als gemütliche Theaterpremiere mit weinreicher Aftershowparty geplant war, hätte selbst den deutschen Ethikrat in die Verzweiflung getrieben. Sie können nicht folgen? Konnte ich auch nicht. Also first things first.
Auf dem Spielplan der Wuppertaler Bühnen steht seit einigen Wochen mit Die Wahrheiten das neue Stück des „Erfolgsduos“ Lutz Hübner und Sarah Nemitz – die Zahlen geben ihnen leider Recht. Ein Beziehungsdrama. Nein halt, eine Missbrauchsgeschichte. Oder doch eine Ehekomödie? Eine feministische Tatsachenstudie? Wokes Gejammere? Privilegierte Augenwischerei? Nun ja, allem voran war es eines: nicht besonders gut.
Das lässt sich zumindest über die textliche Vorlage der Wuppertaler Produktion sagen. Schauspielerisch war sie top und auch was hier inszenatorisch daraus gemacht wurde, hat seinen eigenen Charme. Man verfolgt einen Interpretationsansatz, der die Neutralität des Textes unterstreicht, und vielen deshalb nicht in den Kram passt. So weit, so gut.
Ich fuhr also mit dem Wissen über die desaströsen Nemitz/Hübner-Produktionen der Vergangenheit (Haben Sie Abiball in Düsseldorf gesehen? Seien Sie versichert: Sie sind nicht allein mit Ihrem Trauma!) ins Bergische und musste mir eingestehen, von der rund hundertminütigen Produktion durchaus unterhalten worden zu sein. Am Ende schien alles möglich, vier Perspektiven, jede mit ihrem eigenen Sympathie- und Asympathie-Potenzial und auf ihre Weise im Recht – ‚die Wahrheiten’ eben und nicht ‚die Wahrheit’. Eine offene Frage, aus der jeder für sich seine Antworten ziehen kann. Dachte ich.
Schon kurz nach Ende der Vorstellung lernte ich, dass es im Grunde nur zwei Sichtweisen auf das Stück geben durfte. Natürlich so konträr, dass sie beide von der jeweils anderen Gruppe belächelt, kritisiert und argwöhnisch beäugt wurden. Das Schlimmste daran: Niemand sprach über das wirklich Relevante wie Inszenierung, Darsteller:innen, die Qualität des Skripts (immerhin eine Zweitaufführung!), diskutiert wurde Inhalt, Inhalt, nichts als Inhalt.
Ich bin mir sicher, dass Hübner und Nemitz eine diebische Freude daran gehabt hätten, über eine im Foyer installierte Wanze allen Gesprächen, Diskussionen und Streitereien zu folgen. Auch wenn viele genau das vermeiden wollten: Die Autor:innen hatten ihr Soll erfüllt, man diskutierte den Inhalt. Über drei Stunden lang! Und das nicht mit Argumenten, sondern mit Lagerzuschreibungen, Befindlichkeiten und Irrationalität. Beidseitig. Und über allem stehen am Ende die Fragen: Wie viel (An)Leitung braucht ein Publikum, um ein Stück „richtig“ zu verstehen? Hat Kunst, die „richtig“ verstanden werden kann, überhaupt eine Relevanz oder ist sie einfach nur Mittel zur Selbstbestätigung ihrer jeweiligen Filterblase? Ist wer Kunst anders versteht als ich gleich gegen mich? Ist Neutralität noch immer neutral oder nicht schon längst politisch?
Und noch während ich diese Zeilen tippe, höre ich Nemitz und Hüber auf meinen Schultern sitzend schallend in mein Ohr lachen. Waren es am Ende vielleicht genau diese Fragen, die sie aufwerfen wollten? Ist der eigentliche Inhalt des Stücks gar nicht die dargestellte Ehegeschichte, sondern die anschließende Offenlegung des desaströsen Zustands unserer Debattenkultur? Ist dieses Drama am Ende gar nicht so schlecht wie zu Beginn aus der Arroganz des Theaterwissenschaftlers angenommen?
So wenig wie ich diese Fragen wirklich beantworten kann, möchte ich mich konkreter zur Kunstfrage positionieren, zumindest nicht hier und heute. Nur so viel: Dass ich nun schon seit vier Wochen regelmäßig an diesen Abend, der als ein Abend zum Vergessen anberaumt war, zurückdenke, lässt mich tatsächlich zweifeln an der vermeintlichen Maliziösität des Textes.
Machen Sie daraus, was Sie wollen. Aber seien Sie sich sicher: Ich bin nicht gegen, vielleicht nur nicht für Sie.
Cheers
Ihr
Nick Pulina
PS: Abiball war trotzdem furchtbar!
PPS: Nicht vergessen: „Die Welt ist aus den Fugen!“ – Heiner Müller
PPPS: Haben Sie das Stück gesehen und möchten Gedanken mit mir teilen? Tun Sie dies unter @culinanick bei Instagram.
Sarah Nemitz mag ich sehr gerne;)