Über Seelenverwandtschaft und Gesichter – ein Bericht über die FBM 2022

Die Frankfurter Buchmesse 2022

Die Frankfurter Buchmesse lädt auch dieses Jahr wieder unzählige Literatur-Interessierte in ihre Hallen ein. Von Austeller:innen, Bestseller-Autor:innen, Künstler:innen und internationalen Expert:innen ist alles dabei. Die Anzahl an verschiedenen Geschichten, die dort nicht nur geschrieben stehen, sondern auch live vor Ort erzählt werden, sind kaum zu überblicken. Zwei dieser einzigartigen Geschichten stehen in diesem Bericht im Fokus. Es geht dabei um Seelenverwandtschaft und Gesichter. Was hat es damit auf sich?

von JULIA LEWEN

Melanie Raabe in “Die 30-Minuten-WG” über ihr neues Buch Die Kunst des Verschwindens

Die Frankfurter Buchmesse präsentierte dieses Jahr wieder unzählige neue Titel von unbekannten, wie auch schon bekannten Schriftsteller:innen. Unter ihnen befindet sich auch die nicht so unbekannte Bestseller-Autorin Melanie Raabe, die in der 30-Minuten-WG, ein Büchertalk-Format von Stern und Penguin Random House, über ihren neuen Roman Die Kunst des Verschwindens spricht. In dem 30-minütigen Gespräch mit Catrin Boldebuck (STERN) geht es dabei vor allem um eine Frage: Gibt es wirklich Seelenverwandtschaft? Denn dies ist das Hauptthema des Romans und dasjenige, was die beiden Hauptprotagonistinnen miteinander verbindet.

Die junge Fotografin Nico trifft nachts zwischen den Jahren auf den Straßen Berlins zufällig auf die weltberühmte Schauspielerin Ellen Kirsch. Beide Frauenfiguren fühlen direkt eine unausgesprochene Nähe zueinander, obwohl sie sich davor noch nie begegnet sind. Sie sind sehr unterschiedlich, dabei aber auch, laut Raabe, „wie zwei Seiten einer Münze“. Die außergewöhnliche Nähe der beiden Protagonistinnen findet ebenfalls Ausdruck in ihren Geburtstagen. Denn beide Frauen wurden am selben Tag geboren, was Catrin Boldebuck zur Frage veranlasst, ob es sich hier um eine Zwillingsgeschichte, oder die „moderne Variante des doppelten Lottchens“ handelt. Die Autorin bestätigt, dass die (in-)direkten Bezüge zum Zwillingsmotiv bewusst in den Roman eingebracht wurden und Ellen und Nico eine Verbindung miteinander teilen, die man für gewöhnlich Zwillingen nachsagen würde. Diese Thematik kommt daher, dass sich die Autorin, nicht nur im Schreibprozess, viele Gedanken über die Verbindung zwischen Menschen macht und sich dabei vor allem auf außergewöhnliche zwischenmenschliche Beziehungen fokussiert.

Die Magie von Begegnungen

Nico macht sich nichts aus der Berühmtheit der Schauspielerin. Sie blickt hinter die Fassade von ihrem Ruhm und sieht den Menschen in Ellen. Die Moderatorin sieht die außergewöhnliche Begegnung der Protagonistinnen als einen Appell, uns unsere Offenheit gegenüber neuen Menschen zu bewahren und zu schützen. Melanie Raabe bekräftigt diese Auslegungsweise: Vor allem in den letzten Jahren, wo sich viele Menschen wegen der Pandemie nach Begegnungen gesehnt haben, und sie selber den Roman im Lockdown geschrieben und sich rausgeträumt hat, sind die Sehnsüchte der Autorin nach neuen Begegnungen im Roman deutlich rauszulesen. 

Catrin Boldebuck fragt Melanie Raabe ganz direkt, ob sie an diese Art von Seelenverwandtschaft mit einem Unbekannten glaubt, wie sie die beiden Protagonistinnen erleben. Die Autorin bestätigt dies und führt an, dass sie auf „die Magie von Begegnungen“ vertraut. Sie glaube an die Bereicherung des Lebens, wenn man neuen Menschen offen gegenübertritt. Sie geht darauf ein, dass Menschen sich einander unterschiedliche Perspektiven auf das Leben zeigen können, wodurch sich auch die eigene Sichtweise auf die Welt ein Stück weit verschieben könne.

Der Roman, beobachtet Boldebuck, stellt eine Reise des sich Findens und Verlierens dar. Denn obwohl die Handlung an Orten wie Brügge, Paris, Berlin, auf dem Land oder der See spielt, ist es letztlich ein Kammerspiel, da die große Reise vor allem im Inneren der Protagonistinnen stattfindet und der Raum drumherum deshalb zweitrangig bleibt. Hier werden nochmal die Sehnsüchte der Autorin sichtbar: Denn, während sie im Lockdown, in ihrem Zuhause gefangen, am Roman geschrieben hat, steht den Protagonistinnen die Welt offen. Es sei „letztlich eine innere Reise“, so Raabe.

Der Blick ins Innere

Sie betont, dass es ihr vor allem bei Begegnungen mit Menschen darauf ankomme, die andere Person über ihre Rolle hinaus zu sehen. Das ist auch der Grund, wieso wir als Leser direkt die Innenperspektive der Schauspielerin zu lesen bekommen. Obwohl Ellen alles hat, was man sich erträumen könnte, meistert es die Autorin, die andere Seite der Medaille zu beleuchten: die Unfreiheit, die mit so einer Prominenz einhergehe. Raabe betitelt Ruhm als „die ultimative Unfreiheit“, da jeder eine Meinung zu seinen Mitmenschen habe. Ihr ist unklar, wieso so viele Menschen in der heutigen Zeit berühmt sein wollen. Auch in „Das Blaue Sofa“, ein Interview-Format von ZDF, Deutschlandradio Kultur und Bertelsmann, wo Autoren, wie es der Name schon sagt, auf einem blauen Sofa interviewt werden, spricht Melanie Raabe über das Motiv des Ruhms und dessen Merkwürdigkeit. Ruhm betitelt sie dort als Gefängnis und das Verschwinden als Befreiung.

Letzten Endes beschreibt Melanie Raabe ihr Buch als „hell“, als „Buch über Möglichkeiten“ und „über Zwischenräume, in denen Dinge möglich sind, die uns als unmöglich erscheinen“. Es enthält Spannung, etwas Literarisches, etwas Magisches und bietet zugleich eine andere Perspektive auf die heutige Zeit. Mit dem Roman Die Kunst des Verschwindens hat sich die Autorin an etwas Neues in ihrem Schaffen gewagt. In der Vergangenheit hat sie nämlich vor allem Krimis wie Der Schatten, oder Die Wälder geschrieben. Mit dem neuen Werk fand sie es toll, dass für sie nun alles offensteht und es keine Genregrenzen gibt. Schlussendlich, resümiert die Autorin, begleitet die Thematik des Romans sie in allem, was sie schreibt: Das Hinausblicken über die äußere Hülle und das Hineinblicken in das Innere des Menschen.

Das Gesicht im Fokus

Luzia Braun in “Das Blaue Sofa” über ihr neues Buch Sich sehen: Gespräche über das Gesicht

In „Das Blaue Sofa“ ist dieses Jahr auch Luzia Braun präsent, diesmal aber nicht wie gewöhnlich als Moderatorin, sondern in gewechselter Rolle als Autorin. Zusammen mit Ursula März hat die Fernsehmoderatorin das neue Buch Sich Sehen veröffentlicht, in dem es vor allem über das Körperteil geht, welches in den letzten Jahren größtenteils nur maskiert zu sehen war: das Gesicht.

Braun und März haben dafür mit insgesamt 19 Personen Gespräche über das Gesicht geführt. Allen voran wurden die Gespräche damit begonnen, dass den Menschen ein Spiegel vorgehalten wurde, begleitet von der Frage: Was oder wie sehen Sie sich?

Braun äußert sich in dem Interview erstaunt darüber, wie sehr sich die verschiedenen Menschen in den Gesprächen geöffnet haben, „da es offensichtlich etwas sehr Intimes ist, über das Gesicht zu sprechen“. Mit dem Gesicht steht auch die Lebensgeschichte eines Menschen in Verbindung. Normalerweise würde man selbst beim Blick in den Spiegel auf die Frage, was man sieht, „sich selber“ antworten. Doch überraschenderweise hat diese Antwort erst der zehnte Gesprächspartner im Buch geäußert. Diese Person war ausgerechnet jemand, der sein Gesicht tätowiert und dieses somit selbst gestaltet hat.

Sich selbst fremd sein

Die Moderatorin Dorothea Westphal fragt ihre ehemalige Kollegin, was sie an dem Thema Gesicht fasziniere. Ist es für sie ein Seelenspiegel oder eine Fassade? Doch Braun antwortet daraufhin, dass es viel banaler sei. Interessanterweise ist der Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit dem Thema für Braun als Moderatorin auf dem blauen Sofa entstanden. Nach ihrer letzten Moderation im Jahr 2019 hat sie sich selbst im Fernsehen gesehen. Dabei hat sie sich komplett entfremdet von ihrer eigenen Person gefühlt. Diese Entfremdungserfahrung war Ausgangspunkt für die Frage: Wie gehen wir alle mit unserem Bild um? Denn wir kennen es vermutlich alle, dass man sich zum Beispiel auf einem Foto nicht gut getroffen oder sich in einem Zoom-Meeting während des Sprechens kritisch beobachtet fühlt. Braun geht davon aus, dass man selbst mit seinem Gesicht sehr „ungnädig“ umgeht. Das Augenmerk der meisten Menschen liegt eher bei den Defiziten als bei den positiven Ausprägungen an sich selbst. Vor allem in der heutigen Zeit, wo Menschen Schönheitsoperationen an sich machen lassen und jegliche Art von Filtern auf Social Media präsent sind, kommt auch die Unzufriedenheit über das eigene Gesicht einher, so Braun. Das eigene Gesicht sei manipulierbar und beliebig gestaltbar. Junge Mädchen bekämen falsche Schönheitsideale durch Beauty-Apps vermittelt, wo man durch einen Klick sein Gesicht zu seiner Wunschvorstellung bearbeiten kann.

Ein Gesicht, eine Geschichte

Abgesehen von der Geschichte und dem Entstehungsprozess des Buches, haben Braun vor allem die verschiedenen Lebensgeschichten der Menschen fasziniert. So hat zum Beispiel der Schauspieler und Schriftsteller Robert Seethaler beim Gespräch über sein eigenes Gesicht den Spiegel praktisch abgelehnt. Aufgrund seiner Sehschwäche, die fast bis zur Blindheit geht, war es für ihn anscheinend schon immer schwer, von anderen Personen gesehen zu werden. Er spricht hier auch von einer „Gesichtsscham“. Die Schauspielerei war für ihn eine Möglichkeit, diese Scham zu überwinden.

Die Schauspielerei stellte für ihn eine Hoffnung dar, diese Scham zu überwinden. Der Philosoph Peter Sloterdijk stellt hingegen im Gespräch die These auf, der Spiegel selbst sei ein Demütigungsinstrument. Viele weitere interessante Menschen, mit noch interessanteren Gesichtern tauchen im Verlauf des Buches auf: Ein eineiiger Zwilling, die erste Transgender-Kommandeurin der Bundeswehr, eine Schauspielerin, eine Person mit einem verbrannten Gesicht, eine dunkelhäutige Frau und sogar ein totes Gesicht. All diese Gesichter sind auf ihre einzigartige Art und Weise außergewöhnlich und erzählen verschiedene Geschichten, die im Buch Sich Sehen: Gespräche über das Gesicht ihren Platz finden. Braun findet dabei vor allem den Mut beeindruckend, mit dem die verschiedenen Menschen mit ihrem Schicksal umgehen.

Schließlich führt Braun aus, dass dadurch, dass wir alle einem Schönheitsideal hinterherrennen, die besonderen Gesichter, diejenigen mit Ecken und Kanten, verloren gehen würden. Es setze sich, vor allem durch Social Media, ein Durchschnittsgesicht durch, wodurch wir uns alle immer ein bisschen ähnlicher sehen würden. Braun merkt dabei aber selbst an, dass sie es gar nicht so moralisch meint, wie es sich anhöre.

Das Buch Sich Sehen: Gespräche über das Gesicht von Luzia Braun und Ursula März zeigt letztendlich sehr viele individuelle Gesichter, und offenbart dabei ihre Geschichten. Die Thematik des Gesichtes fächert sich dabei immer weiter auf. Luzia selbst behauptet, dass sie hätte „endlos so weiter machen können“.

Melanie Raabe: Die Kunst des Verschwindens
 btb Verlag, 400 Seiten

 Preis: 22,00 Euro

 ISBN: 978-3-442-75929-3

Luzia Braun u. Ursula März: Sich sehen: Gespräche über das Gesicht
 Galiani Berlin Verlag, 348 Seiten

 Preis: 26,00 Euro

 ISBN: 978-3-869712482

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