Ein irakischer Autor namens Dafer Schiehan lässt sein erstes Theaterstück im eigenen Land aufführen. Von da an ist er persona non grata, muss das Land verlassen und gelangt so in die Schweiz. Usama Al Shahmanis autobiografisch inspirierte Erzählung Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt zeigt uns eines der unzähligen einzigartigen Schicksale, die die Menschen über die Grenzen führen. Ein jedes Leben ein Unikat – das der Autor aber nicht zum ersten Mal in eine Geschichte gießt.
von THOMAS STÖCK
Die sogenannte Flüchtlingsdebatte endet nur allzu oft in einer Zahlenjonglage: So und so viele Flüchtlinge hat Land XY aufgenommen, in der Kriminalstatistik tauchen sie mit ebendieser oder ebenjener Anzahl und oft auch noch über dem allgemeinen Bevölkerungsdurchschnitt auf, Zuwanderer aus dieser oder jener Kultur seien zu so viel Prozent besser integriert als Zuwanderer aus anderen Kulturkreisen. Wer das Große, Ganze im Blick hat, verliert dabei jedoch oftmals die Details aus den Augen – im vorliegenden Fall etwa, dass hinter jeder Zahl ein Mensch mit einer Geschichte steht.
Eine solche Geschichte treffen wir auch in Usama Al Shahmanis Roman Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt an. Protagonist dieser Erzählung ist der irakische Student Dafer Schiehan, der in seiner Freizeit gern Gedichte und Theaterstücke schreibt. Seit dem Putsch Saddam Husseins lebt Dafer in einer angespannten Atmosphäre, die sogar bis in die heimischen vier Wände eindringt und ein Klima der Angst verbreitet. Über Politik wird innerhalb der Familie nicht gesprochen und Dafer soll sich hüten, seinem Hobby auch an der Universität nachzugehen. Gedichte schreiben, damit lässt sich doch kein Geld verdienen! Vor allen Dingen ist dieser Berufsstand aber nicht nur finanziell anrüchig, sondern stets verdächtig. Ein jedes Wort wird auf die Goldwaage gelegt – und fühlt sich die Hussein’sche Diktatur angegriffen, werden die Menschen inhaftiert. Der Haft können sie nur entgehen, wenn es ihnen gelingt zu flüchten. Ein solches Schicksal ereilt auch Dafer.
Zarte Worte eines zarten Menschen
Ein erstes Theaterstück, das Dafer eigentlich nur für sich schreibt, wird von einem Freund für eine Aufführung vorgeschlagen. Dafer ist sich unsicher, ob er wirklich das Risiko eingehen will, ein eigenes Stück auf der Bühne inszeniert zu wissen. Nach kurzem Zögern trifft er eine folgenschwere Entscheidung: Das Stück soll inszeniert werden. Das Theaterstück führt zu einem Bruch in Dafers Leben, das sich auch erzählperspektivisch niederschlägt. Die in Rückblenden erzählten Passagen im Irak werden verschränkt mit Dafers neuer Lebensrealität: Seine Flucht führt ihn in die Schweiz. Dort wird er zwar nicht im eigentlichen Wortsinne heimisch, integriert sich jedoch bestmöglich in das ihm zunächst fremde Land. Dieser langwierige, häufig umständliche Prozess erfährt die gleiche Aufmerksamkeit wie das Moment der zunehmenden Entfremdung Dafers von seiner eigentlichen Heimat. Bei seiner Rückkehr in den Irak muss er erkennen, dass die Menschen im Land aufgrund der permanenten Gewaltakte ein Leben in Angst führen. Nur den Wenigsten unter ihnen gelingt es, Dafer die Heimat nahezubringen, die er in Kindheitstagen lieben gelernt hat.
In der Schweiz gelingt die Integration nicht zuletzt über das Wandern. Der Gang in die Natur führt uns den zarten Menschen vor Augen, der sich hinter dem Zahlenmeer der Flüchtlingsdebatte verbirgt. Das deutet bereits der Titel an. Dieser ist, für Al Shahmani typisch, ein übersetztes arabisches Sprichwort. Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt ist dabei leitmotivisch in die gesamte Geschichte eingeflochten. Passenderweise hat sich der Limmat Verlag dazu entschieden, dieses Leitmotiv auch auf die Rückseite des Buchumschlags zu drucken, sodass ich Ihnen nicht allzu viel von Ihrer hochpersönlichen Lektüreerfahrung nehmen muss, wenn ich diese Szene zitiere:
„Es herrscht eine winterliche Stille, in der nur leise die Geräusche der Wellen zu hören sind, die mit rollenden Kieseln an den Strand schlagen. Ein Graureiher, der am anderen Ufer steht, schaut ihn an. Das Tier sieht aus wie ein stiller Erzähler, der ihn zu fragen scheint: Was machst du hier, Fremder? Er hat ein Bein vom Boden hochgezogen, als wolle er selbst nur mit einem Bein zur Welt gehören.“
Die Entrückung der Welt, wie sie die Zugvögel durchleben, sucht auch Menschen heim, die ihre Heimat zu Gunsten eines sicheren, aber unbekannten Exils verlassen müssen. Dass selbst ein solches im Dauerexodus begriffenes Wesen Dafer nur als Fremden erkennt, ist sicherlich eine schmerzliche Erkenntnis. Die Begegnung zwischen Graureiher und Dafer ist nur ein kurzes Intermezzo, wie sie zuhauf an Flughäfen, Bahnhöfen und anderen Transitorten den Alltag unserer heutigen Gesellschaft prägen.
Das Murmeltier grüßt am Romanende
Sie merken, die Lektüre von Al Shahmanis Erzählung macht mich wehmütig. Mit einem lachenden, weil rational denkenden Auge und einem weinenden, gefühlsgeleiteten Auge blickt der Leser auf die geglückte Flucht, die doch nicht glücklich macht. Dafers Schicksal ist ein trauriges, auch wenn er gut integriert in die Schweizer Gesellschaft ist und der Alltagsrassismus, wie er sich in der Erzählung darstellt, ihn und seine starke Persönlichkeit kaum tangiert. Doch erinnern Sie sich, wie ich erwähnte, jede Flüchtlingsgeschichte sei ein Unikat? Al Shahmanis Werk besteht aus solchen vermeintlichen Unikaten und schon bei der Zusammenfassung dieser Erzählungen fällt auf, dass sie thematisch und motivisch wenig innovativ daherkommen: In In der Fremde sprechen die Bäume arabisch ist nicht Dafer der Protagonist, sondern Usama Al Shahmani selbst. Die autobiografische Geschichte ähnelt auf den ersten Blick Dafers Lebensgeschichte aufs Haar. Das ist in meinen Augen ein fatales Signal in zweierlei Hinsicht: Erstens erscheint der Literat Usama Al Shahmani als One-Trick-Pony, wobei der irakisch-schweizerische Poet doch so viel auf dem Kasten hat. Zweitens entkräftet er dadurch das Argument, jede Flucht sei ein hochpersönliches Erlebnis, das es so kein zweites Mal gibt. Bedauerlich, dass der Kranich dem Murmeltier die Hand gibt, auf dass Letzteres uns täglich grüßt.
Usama al Shahmani: Der Vogel zweifelt nicht am Ort, zu dem er fliegt
Limmat Verlag, 176 Seiten
Preis: 26,00 Euro
ISBN: 978-3-03926-042-3