„Unser Leben ist wie eine Reise; wir lassen uns nieder und meinen, unser Haus stünde ewig“

Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) ca. 1938

Die Schweizer Journalistin, Reiseschriftstellerin und Fotografin Annemarie Schwarzenbach begeht heute, am 15. November 2022, ihren 80. Todestag. Ihr Leben gleicht einer Reise: „Im gewöhnlichen Leben scheint natürlich alles fester und nicht vorübergehend; das Bewusstsein des ‚Episodenhaften‘ verliert sich, man glaubt leichter, dass jeder Tag zu einer Zukunft beitrage, und man vergisst, dass diese Zukunft eines Tages oder Nachts ihr unwiderrufliches Ende hat.“ Sie flüchtet gewissermaßen aus ihrem Elternhaus, beschreibt ferne Länder für andere Menschen, führt ein nomadisches Leben und hinterlässt ein großes Œuvre prosaischer wie lyrischer Texte sowie Fotografien, die nur zum Teil zu Lebzeiten Schwarzenbachs in Buchform sowie in Zeitungen und Zeitschriften erschienen sind.

von JANA SCHRÄDER-GRAU

Am 23. Mai 1908 wird Annemarie Schwarzenbach in Zürich geboren. Sie ist die Tochter von Alfred Schwarzenbach, einem erfolgreichen Schweizer Seidenfabrikanten, und Renée Schwarzenbach-Wille. Die finanzielle Situierung der Familie ermöglicht es Annemarie, nahezu ihr gesamtes Leben auf Reisen zu verbringen. Sie studiert ab 1927 Geschichte in Zürich und Paris und schließt 1931 mit der Promotion zur Geschichte des Oberengadins im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit ab; im gleichen Jahr erscheint ihr erster Roman Freunde um Bernhard. 1928 fährt sie im Alter von 20 Jahren nach Paris, schließlich nach Berlin, wo sie die Geschwister Erika und Klaus Mann kennenlernt. Während Schwarzenbachs Zeit in Berlin zwischen 1931 und 1933 schreiben sie gemeinsam Artikel gegen den Faschismus. Sie befindet sich zum Zeitpunkt der Machtergreifung Hitlers nach wie vor in Berlin, wo sie ihr zweites Buch Lyrische Novelle publiziert. 1934 wird ihr der Aufenthalt im Deutschen Reich verboten, weil sie sich finanziell an der von Klaus Mann gegründeten Zeitschrift Sammlung beteiligt. Nach ihrem Berlin-Aufenthalt befindet sich Schwarzenbach beinahe ununterbrochen auf Reisen und besucht nahezu alle Kontinente. 1935 heiratet sie in Teheran den französischen Diplomaten Claude Achille Clarac, der allerdings – ebenso wie Schwarzenbach – homosexuell ist. 1942 kehrt sie in die Schweiz zurück und in Folge schwerer Kopfverletzungen durch einen Fahrradunfall am 6. September verstirbt sie am 15. November 1942 im Alter von 34 Jahren.

Der gefallene Engel

„Annemarie Schwarzenbach hat sich schon als Kind gegen diese Genderrollen aufgelehnt, indem sie sich wie ihre Brüder angefangen hat anzuziehen. Sich Fritz genannt hat. Und später dann, als sie in die Pubertät kam und als junge Frau dann, mit dieser Androgynität sehr gespielt“, sagt der Historiker Alexis Schwarzenbach 2008 über seine Großtante. Überall, wo sie hinkommt, werde Schwarzenbach aufgrund ihrer androgynen Schönheit bewundert, ihre ebenmäßige Haut lasse sie wie einen gefallenen Engel erscheinen. Sie spielt auch in ihren Bildberichten mit Selbstinszenierung durch Porträts. Mit ihrer Homosexualität geht sie offen um und hat eine Affäre mit Erika Mann. 1932 kommt sie erstmals mit Morphium in Kontakt. Der Drogenkonsum und Krankheiten zwingen sie Ende 1935 nach ihrer Rückkehr aus Persien zu einem Entzug in einer Schweizer Klinik. Die Geschehnisse in Europa, die Verfolgung der Juden, die Bücherverbrennung und die Neutralität der Schweiz sorgen dafür, dass sie der Droge ein weiteres Mal verfällt und 1938 einen zweiten Entzug machen muss. Neben ihrer Drogenabhängigkeit und ihren Depressionen verdeutlichen auch zwei Suizidversuche ihren steten Kampf gegen die politischen Entwicklungen sowie die eigene Familie, die dem Nationalsozialismus frönt.

„Heute morgen erwachten wir dann in einer neuen, urfremden Landschaft“

Im Oktober 1933 bricht Schwarzenbach zu ihrer ersten großen Persienreise auf, bei der sie die Türkei, Syrien, den Irak, Palästina sowie den Libanon durchquert und schließlich in Persien ankommt. Im Voraus vereinbart sie mit Otto Kleiber, dem Feuilletonchef der Basler National-Zeitung, eine Serie mit Berichten, die parallel zur Reise erscheinen sollen. Auch in anderen Tageszeitungen und illustrierten Zeitschriften werden Texte der Reise abgedruckt. Im November 1934 erscheint schließlich im Rascher & Cie.-Verlag in Zürich das Reisetagebuch Winter in Vorderasien. Schwarzenbach kehrt 1934 kurz in die Schweiz zurück, nur um von dort aus über Russland wieder nach Persien zu flüchten. 1935 beginnt sie ihre Arbeit am Roman Das glückliche Tal, das allerdings erst 1940 im Morgarten-Verlag unter einem ihrer vielen Autorinnenpseudonyme, Annemarie Clarac-Schwarzenbach, publiziert wird. Im Iran lernt sie die Fotografin Barbara Hamilton-Wright kennen, mit der sie 1936/37 die USA bereist. Sie dokumentiert die Ausbeutung der Afroamerikaner und setzt sich für deren Gleichberechtigung ein. Während ihres zweiten Aufenthalts in einer Schweizer Entzugsklinik lernt sie Ella Maillart kennen, mit der sie in einem Ford V8 91A Deluxe über die Türkei und Persien nach Afghanistan reist. Maillart und Schwarzenbach sind vermutlich die ersten Frauen, die mit einem Auto die afghanische Wüste durchqueren. Nach ihrer Ankunft in Kabul erfahren sie vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und ihre Wege trennen sich – auch aufgrund Schwarzenbachs erneuten Drogenkonsums.

Wiederentdeckung durch die Forschung

Erst in den 1980er Jahren werden die Texte Schwarzenbachs durch die literaturwissenschaftliche Forschung wiederentdeckt. Einige ihrer Texte sind bis heute nur in Skriptform in ihrem Nachlass im Schweizer Literaturarchiv in Bern erhalten. Nach der Wiederentdeckung folgen zahlreiche Neueditionen der Texte sowie einige Erstpublikationen wie beispielsweise von Tod in Persien. Der Text beruht auf dem Typoskript aus Schwarzenbachs Nachlass und scheint – dem Editionskommentar zufolge – eine erste Version von Das glückliche Tal zu sein. Es sind bislang nicht alle Texte Schwarzenbachs wieder zugänglich gemacht worden, insbesondere das in Zeitungen und Zeitschriften publizierte Œuvre wurde bislang nur geringfügig berührt und untersucht. Erst im Oktober 2022 ist der bis dato unpublizierte Prosazyklus Die vierzig Säulen der Erinnerung von Walter Fähnders im Golden Luft-Verlag herausgegeben worden. Der Titel spielt auf den Palast Cihil Sutun in der Nähe von Isfahan an, den Schwarzenbach zuerst auf ihrer Persienreise 1934 besichtigt hatte.
„Der Name bedeutet ‚Vierzig Säulen‘, […]. Zählt man aber gewissenhaft nach, so findet man, dass es nur zwanzig Säulen sind, – und wundert man sich dann über den Namen Cihil Sutun, so muss man nur dem Gärtner an den äussersten Rand der Wasserstrasse folgen, da sieht man in entrückter Ferne die zwanzig Säulen und ihr ebenmässiges ungebrochenes Spiegelbild.“ Diese Anspielung auf die Reflexion der zwanzig Säulen im Wasser, die somit zu vierzig Säulen werden und die Schwarzenbach im Titel ihres Prosazyklus mit der Erinnerung, der Reflexion zusammenbringt, sowie die Tatsache, dass dieser Zyklus Ende 1939 auf der Afghanistanreise mit Ella Maillart entstanden ist, legen nahe, dass dieser Prosazyklus gerade nicht Bezug auf die Afghanistanreise nimmt. „[I]n diesem Spiegelbild sucht oder findet die Erzählerin Erinnerung und Selbstreflexion“, schreibt Fähnders in seinem Nachwort. Die meisten der Texte beziehen sich auf Persien, darüber hinaus werden auch das Reisen und die politische Situation in Europa reflektiert, wo der Zweite Weltkrieg bereits ausgebrochen ist.
Die Texte sollen eigentlich zu Lebzeiten Schwarzenbachs in der Basler National-Zeitung erscheinen, sie hat Kleiber Proben der Texte zugeschickt, gedruckt wurden sie allerdings nicht. Ebenso wenig erscheint ein vertraglich vereinbartes Afghanistan-Buch im Morgarten-Verlag, in dem auch Das glückliche Tal erschienen ist, da sich die Texte mehr auf Persien als auf Afghanistan beziehen. „Trotz ihrer wiederholten Interventionen ist der Zyklus nie erschienen, die genauen Gründe sind nicht bekannt.“
Die Texte, die keinen Reisebericht darstellen, „sondern eine poetische Reflexion und Selbstreflexion, in der sich Vergangenheit und Gegenwart, Realität und Imagination, Erinnern und Vergessen überlagern“, fügen sich nicht nahtlos in den Schreibstil Schwarzenbachs ein. Sie stellen vielmehr eine Ausnahme dar und erinnern an das kurz zuvor erschienene Buch Das glückliche Tal, in dem die Begegnung mit einem Engel im Lahrtal in Persien beschrieben und über die in den Vierzig Säulen ebenfalls reflektiert wird: „Die zwanzig Säulen spiegeln sich im Wasser eines dunklen Teichs. Ich sehe nur ihr Spiegelbild, aber ich erkenne sie wohl, diesen trauernden Wald, – und schaue, bis in bleicher Tiefe mein eigenes Antlitz sichtbar wird. […] In solcher Stille sass einmal ein Engel in grauer Dämmerung, und breiteten sich steigende Gewässer aus.“
Das kluge Nachwort von Walter Fähnders hilft dabei, den Zyklus in seinen historischen wie stilistischen Entstehungskontext und das Werk Schwarzenbachs einzuordnen. Die Texte sind eine Bereicherung, um Schwarzenbachs besondere Haltung gegenüber Persien, ihrem Land der Freiheit, aber auch der Realitätsflucht nachzuvollziehen.

Einige Empfehlungen:

Annemarie Schwarzenbach: Winter in Vorderasien. Tagebuch einer Reise.

Lenos Verlag, 172 Seiten

Preis: 14,90 Euro

ISBN: 3 85787 668 9

Annemarie Schwarzenbach: Eine Frau zu sehen. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Alexis Schwarzenbach.

Kein & Aber-Verlag, 104 Seiten

Preis: 10,00 Euro

ISBN: 978-3-0369-6103-3

Annemarie Schwarzenbach: Die vierzig Säulen der Erinnerung. Mit einem Nachwort von Walter Fähnders.

Golden Luft-Verlag, 43 Seiten

Preis: 23,00 Euro

ISBN: 978-3-9822844-0-8

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