Zufall oder von Höcksken auf Stöcksken

Fredrik Sjöberg: Mama ist verrückt und Papa ist betrunken; Cover: Carl Hanser Verlag

Literatur als Ticket für eine Reise voller Überraschungen. In Frederik Sjöbergs Essay über den Zufall mit dem Titel Mama ist verrückt und Papa ist betrunken führt er uns von Recherchen zu einem Kunstwerk, auf die Spuren eines vergessenen Malers, in den magischen Bann des Zufalls und in die Tiefen einer Familiengeschichte. Ein Buch, das von starken Frauen erzählt und Familie, Kunst und Zeit in Einklang bringt.

von CHRISTIN WEIDENFELLER

Auf den Spuren eines Vergessenen begibt sich der Autor Fredrik Sjöberg – und somit auf eine Reise in die schwedische Kunstgeschichte. Durch einen simplen Zufall und einer eher beiläufigen Erwähnung, wird er auf einen dänischen Maler aufmerksam und verliert sich in der Frage: „Wer ist Anton Dich?“

Der dänische Maler, in Kopenhagen geboren, fünfundvierzig Jahre alt wurde, und 1935 im ligurischen Bordighera (Italien), nahe der französischen Grenze verstarb – einsam, arm und dem Alkohol ergeben, führte Sjöberg zu einem Gemälde, eines dass zwei jugendliche Mädchen in südlicher Landschaft zeigt – und nun auf dem Einband des Buches zu bewundern ist. Anhand dieses Gemäldes rekonstruiert er eine Familiengeschichte und bringt sie dem Leser auf wunderbar romanhafte Weise nah.

Von Reptilien sammelnden Zoologen und Briefsammlern

Der Autor verbindet in seinem Essay die sorgfältig recherchierten Fakten und poetischen Momentaufnahmen und bündelt sie mit zahlreichen Abbildungen zu einem äußerst mitreißenden und aufmunternden Werk. Er erzählt einen ganzen Schatz von nie erzählten, miteinander verwobenen Geschichten, die den Leser amüsieren, nachdenklich und immer klüger machen.

Sjöberg erzählt von der Geschichte von John Edward Gray, einem mit Talent gesegnetem Mann, der sein Leben der Aufgabe widmete, in der zoologischen Abteilung des British Museums mit Insekten und Weichtieren zu hantieren. Der aber auch der erste Briefmarkensammler war, als er am 1. Mai 1840 in England nichts ahnend die erste One Penny Black kauft (und damit schon etwas an den Helden aus Forest Gump erinnert, als er in somefruitcompany namens Apple investiert). Und der durch sein Tun Frederik Sjöberg dazu inspiriert auf den eigenen Dachboden zu steigen, um in den Erinnerungen vergangener Sammelstunden zu schwelgen und zu entdecken, dass sich auch der Ruhm von Künstlern mit einem Briefmarkensammler-ähnlichen Maßstab messen lässt.

Sjöberg erzählt von den unabhängigen Frauen der Familie Adler, in der eine Mitglied der marxistisch-leninistischen Partei Schwedens wurde und in den letzten Lebensjahren Lyndon B. Johnson (36. Präsident der Vereinigten Staaten) mit halsstarrigen Briefen terrorisierte. Oder in der eine andere Frau der Familie in den Zwanzigerjahren eine Firma gründete, gewebte Textilien produzierte und ihren Mann abservierte. Und Sjöberg erzählt von Anton Dichs Freundschaften oder von Würgefeigen, die tatsächlich so heißen und ihren Wirt erwürgen. Und Sjöberg erzählt von einem Kater namens Kanabriel, der Frederik Sjöberg ein Gespür für Namen gab.

Sie alle Formen gebündelt Frederik Sjöbergs Werk und lassen ein Buch der Zufälle, eine Reise durch die Familiengeschichte und eine Möglichkeit des Gedenkens – an alte vergangene Ereignisse oder an Anton Dich selbst erkennen. Seine erfrischenden und kenntnisreichen Worte nehmen uns an die Hand, führen uns, lassen uns nachdenklich das Erzählte verarbeiten und dennoch nie im Regen stehen. Die sorgfältige, fast zufällig anmutende Aneinanderreihung der kleinen Beobachtungen, die von Thema zu Thema führen und dabei nie das große Ganze aus den Augen verlieren, machen das Buch so besonders. Ein Muss für jeden, der in kleinen Dingen die Bedeutung und Schönheit schätzt oder jene, die sich gerne in fremde Gedanken entführen lassen wollen.

Fredrik Sjöberg: Mama ist verrückt und Papa ist betrunken
Carl Hanser Verlag, 189 Seiten
Preis: 24,00 Euro
ISBN:978-3-446-27294-1

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