Hinter unserem heutigen Türchen verbirgt sich ein Film für alle, die es noch nicht geschafft haben, sich das Werk der diesjährigen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux genauer anzuschauen. Das Ereignis – Audrey Diwans Verfilmung des gleichnamigen Romans Ernaux‘ – ist vielleicht nicht der passendste Film für die „beschaulichste Zeit des Jahres“, aber wer sagt denn, dass man sich zur Weihnachtszeit nur mit leicht verträglicher, besinnlicher Kost zufriedengeben muss?
von CAROLIN KAISER
Erwischt Sie der Literaturnobelpreis auch alle Jahre wieder kalt? Wenn es Ihnen wie mir geht, durchstehen Sie fast jedes Jahr den Schock, dass Sie von der Preisträgerin oder dem Preisträger noch nie eine Zeile gelesen haben. Aber natürlich wollen Sie und ich am literarischen Diskurs teilhaben! Blöd nur, dass sich unser Nobelpreis-Backlog mittlerweile schon ganz schön gestapelt hat! Da reichen selbst die Weihnachtsferien nicht aus, um wieder vollumfänglich auf der Höhe der literarischen Zeit zu sein. Aber eine Retterin in der Not erscheint uns am Horizont: die Literaturverfilmung! Es ist natürlich Ihr gutes Recht, es als Sakrileg zu betrachten, das Werk einer Literaturnobelpreisträgerin durch eine schnöde Verfilmung zu ersetzen. Aber eine hochwertige Literaturverfilmung kann doch recht effektiv die Zeit der Unkenntnis bis zur richtigen Lektüre des Œuvres überbrücken.
Glücklicherweise handelt es sich bei Audrey Diwans Verfilmung Das Ereignis (frz. Original: L’événement) von Annie Ernaux‘ gleichnamigen Roman aus dem Jahr 2000[1] um eine ebensolche. Zugegeben – die autobiographische Geschichte über eine junge Studentin, die im Frankreich der 1960er Jahre eine ungewollte Schwangerschaft abbrechen möchte, ist vielleicht nicht unbedingt „besinnlich“. Diwans beklemmende Inszenierung und die stoische Verzweiflung, mit der Anamaria Vartolomei Protagonistin Anne spielt, lassen es den Zuschauenden zudem regelmäßig kalt den Rücken runterlaufen. Schonungslos führt uns Diwan vor Augen, in was für gefährliche Situationen ein solch hartes Abtreibungsverbot, wie es in den 1960ern noch in Frankreich herrschte, ungewollt Schwangere drängt. Noch stärker als Cristian Mungius grandioser Film 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage (rumän. Original: 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile, 2007) setzt Diwan auf die realistische – und dadurch drastische – Darstellung medizinischer Eingriffe und Nachwirkungen, um das Filmerlebnis maximal unangenehm (im positiven Sinne!) zu gestalten. Falls es Sie nach dem ganzen Kitsch der Weihnachtszeit also mal nach einer schönen Portion Gesellschaftskritik dürstet, haben Sie hier meine Empfehlung. Und Ihren Nobelpreis-Backlog haben Sie auch direkt etwas entlastet.
Das Ereignis (2021)
Regie: Audrey Diwan
Drehbuch: Audrey Diwan, Marcia Romano
Besetzung: Anamaria Vartolomei, Kacey Mottet Klein, Luàna Bajrami, Louise Orry-Diquéro
Laufzeit: 100 Minuten
[1] Auf Deutsch tatsächlich erst letztes Jahr zum ersten Mal erschienen. Sie sind also nicht die einzige Person, die kommende Nobelpreisträger*innen nicht auf dem Schirm hat.