Türchen 7: Unverhoffte Selbstfindung à la française

Das doppelte Flugzeugflottchen. So in etwa kann man den Handlungskern von Hervé Le Telliers Die Anomalie beschreiben. Ein Flugzeug mitsamt seinen Passagieren gibt es plötzlich zweimal. Wie kann das sein? Wie gehen die Menschen damit um, dass es sie plötzlich doppelt gibt? Und wie reagiert man darauf, wenn man mit seinem eigenen Schicksal konfrontiert wird und seine Handlungen nochmals überdenken kann?

von THOMAS STÖCK

Türchen ist ein treffliches Stichwort für den heutigen Beitrag. Türchen, die verniedlichende Form eines der alltäglichsten Gegenstände überhaupt. Die Tür ist – wie ähnliche Begriffe, etwa Fenster oder Tor – auch eine Metapher. Eine Metapher des Übergangs. Ist die Tür verschlossen, so ist uns ein Übertritt nicht möglich. Beispielsweise hat die Menschheit nach aktuellem Wissensstand keine Möglichkeit, ein (und sei es auch noch so winziges) Türchen aufzutun, das uns ein Heraustreten aus der Zeit ermöglichen würde. Reisen in die Vergangenheit, Reisen in die Zukunft: Bisher sind uns solche Reisen nur in der Literatur möglich.

Eine solche Reise treten unfreiwillig auch die Passagiere des Flugs Air France 006 in Hervé Le Telliers Die Anomalie an. Das Flugzeug gerät in einen Gewittersturm, der seinesgleichen sucht. Die Instrumente spielen verrückt, die Turbulenzen versetzen die Passagiere in Panik. Doch das Flugzeug verlässt die Wolkenfront – und das gleich zweimal. Einmal erscheint das Flugzeug am 10. März 2021 wieder auf dem Radar und ein zweites Mal am 24. Juni desselben Jahres. Die höchsten Instanzen des US-amerikanischen Staates, welche zunächst mit dem Fall befasst sind, versuchen unter gütiger Mithilfe von Wissenschaftlern aller Fachbereiche Theorien über das Zustandekommen dieser Anomalie aufzustellen. 

Weltliteratur auf Rezept

Für die Passagiere stellen sich indes ganz andere Probleme. Sie begegnen wiederum sich selbst, denn es gibt sie nun tatsächlich zweimal. Von jedem Fluggast gibt es eine Version „March“ und eine Version „June“. Vom unbedarften Kind, das die Geheimnisse der Eltern ausplaudert, bis zum Serienmörder findet sich ein bunter Mischmasch an Charakteren. Beziehungen sind in diesen drei Monaten auseinandergegangen, der an Bord ebenfalls anwesende Schriftsteller Victor Miesel hat innerhalb der drei Monate Selbstmord begangen, der Pilot ist an einem vorher nicht diagnostizierten Krebs gestorben. Wie geht man damit um, seinem Schicksal ins Auge zu blicken?

Hervé Le Telliers Die Anomalie ist ein kurzweiliges Gedankenexperiment, das zum Philosophieren anregt. Die Lebensgeschichten der Figuren geben uns Anlass darüber nachzudenken, welche Tragweite eine einmal getroffene Entscheidung hat und ob diese nicht wieder revidiert werden könnte. In wissenschaftlicher Sicht hat Le Tellier den Bruch im Raum-Zeit-Kontinuum argumentativ solide unterfüttert. Die dritte Zutat neben philosophischer Selbstbestimmungsfrage und wissenschaftlicher Erklärungsmodelle für den erfolgreichen Roman (Prix-Goncourt-Gewinner 2021) bildet die humorige Note, mit der etwa der US-amerikanische Präsident stupide-einfältig karikiert wird. Wenn man ein Rezept für Weltliteratur bräuchte, Hervé Le Tellier wäre eine gute erste Anlaufstelle.

Hervé Le Tellier: Die Anomalie. Aus dem Französischen von Jürgen und Romy Ritte
Rowohlt Verlag, 352 Seiten
Preis: 22,00 Euro
ISBN: 978-3-498-00258-9

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