Unglückliches Glück

Natalie Buchholz: Unser Glück; Cover: Penguin Random House

Natalie Buchholz präsentiert in Unser Glück ein soziologisch-psychisches Experiment über den Zusammenhalt einer Familie. Wie viel braucht es, um eine perfekt erscheinende Ehe zu zerstören? Hier hätte sie weiter gehen, stärker zuspitzen und das Romanfinale in einer unbedingten Ausweglosigkeit münden lassen sollen, um das Potential ihrer Idee voll auszuschöpfen.

von ALINA WOLSKI

Statt Leo Tolstois berühmtem Ausspruch „Alle glücklichen Familien gleichen einander. Jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Art unglücklich“ folgt Natalie Buchholz Unser Glück eher Vladimir Nabokovs satirischer Umkehrung „All happy families are more or less dissimilar; all unhappy ones are more or less alike.“ Denn Coordt und Franziska wähnen ihr kleines Familienglück um ihren Sohn Frieder perfekt, als ihnen eine größere Wohnung in einer Top-Lage in München angeboten wird. Ein kaum für möglich erscheinendes Wunder bei der angespannten Wohnungslage! Jetzt kann alles nur noch traumhaft werden – die Familie in der bezahlbaren Traumwohnung als Ruhepol und Rückzugsort. Doch es entwickelt sich anders, denn die Wohnung hat es in sich. Nicht ohne Grund finden sich keine Interessenten, diese zu mieten. Der geschiedene Ehemann der Vermieterin bewohnt darin ein Zimmer und besteht auf sein Wohnrecht. Schon bei der Besichtigung kündigt er Coordt an, sein Leben zur Hölle machen zu wollen. Dieser schließt den Mietvertrag entgegen des schlechten Gefühls dennoch ab. Die ersten Wochen erscheinen ungewohnt ruhig und ausgeglichen. Der Mann zeigt sich kein einziges Mal. Doch gerade das lässt Coordt unruhig werden. Manchmal sitzt er die halbe Nacht vor der Zimmertür des Alten, um zu überprüfen, ob dieser aus dem Zimmer huscht – ohne Erfolg. Eines Tages, als er es schon fast vergessen hat und alles perfekt scheint, ändert sich alles. Der Mann unterbreitet Franziska einen Vorschlag, den sie nicht ablehnen möchte – sie soll ihn, der nur noch einige Monate zu leben hat, pflegen. Zusätzlich soll Coordt ausziehen, bis der Alte gestorben ist. Im Gegenzug soll Franziska die Wohnung erben. Um das Familienglück in einigen Monaten perfekt zu machen – mit Kind, glücklicher Ehe und nun auch einer Eigentumswohnung – zieht Coordt kurzerhand in ein kleines Singleapartment außerhalb Münchens. Sohn und Frau sieht er von da an nur abends auf immer demselben Spielplatz. Frieder, der schon lange etwas gefremdelt hat, lässt ihn kaum noch an sich heran. Auch Franziska scheint sich zu verändern. In Coordts Kopf dreht sich das Gedankenkarussel, er spioniert seiner Frau hinterher, befragt die Nachbarn und weiß schließlich nicht mehr, was er glauben soll. Vielleicht ist der Alte ja gar nicht krank, sondern möchte Franziska an sich binden? Vielleicht ist Franziska ja auch in den Plan eingeweiht? Und warum soll Coordt dazu unbedingt ausziehen? Als der Alte stirbt – endlich, so meint Coordt – finden die erwartete Erleichterung und Freude keine Einkehr, denn Franziska ist untröstlich. Sie trauert, statt sich auf das gemeinsame neue Leben in der Eigentumswohnung zu freuen. Es kommt zur endgültigen Entfremdung und zum Bruch.

Nicht ausgepackte Werkzeugkiste

Den Prozess des Entfremdens stellt Buchholz nachvollziehbar dar. Coordt schaut von außen auf das, was sich in seiner Wohnung abzuspielen scheint. Seine Frau, die er immer unregelmäßiger sieht, ist für ihn dabei das Maß. Der Mann, die Situation, ihr neuer Teilzeitjob scheinen sie zu einem Menschen zu verändern, den Coordt bewundert und gleichzeitig nicht greifen kann. Jedes Mal, wenn sie sich sehen, fällt Coordt ein neuer Charakterzug auf, den er vorher nicht kannte. Mangels tiefgehender Kommunikation – irgendwann verbietet der Mann es Franziska, mit Coordt über ihn zu sprechen – bleibt Coordt nichts anderes übrig, als in seine Gedankenwelt zu flüchten und die Lücken mit seinen eigenen Interpretationen zu füllen. Doch der Prozess geht im Sinne des Erzählbogens nicht weit genug. Er bricht ab, bevor es zum großen Finale kommen könnte. Zieht man schon ein solches Gedankenexperiment auf, so kann man es auch zu Ende denken – bis zum Rand des Denkbaren. Warum holt der Alte nicht mehr Werkzeuge aus der Trickkiste des Romans, um Coordt noch misstrauischer zu machen? Warum lässt Buchholz Coordt nicht vollständig durchdrehen? Zumindest für einen kurzen Moment, in dem er sich dem Schlimmsten gegenüberstehen sieht, bevor er daraufhin feststellt, dass alles nur in seinem Kopf stattfindet. Warum fehlt es in Unser Glück am Kafkaesken und am Absurden?

Offensichtlich ist, was Buchholz ausdrücken möchte: Auch die am glücklichsten erscheinende Familie oder Ehe kann von einem Moment zum nächsten in die Brüche gehen. Auch die Menschen, die man am besten zu kennen meint, können plötzlich Fremde werden. Doch das steht viel zu stark in statt zwischen den Zeilen. Die Leserschaft wird darauf schon fast mit dem Finger hingewiesen, was stellenweise im Rahmen des Romans und seiner Geschichte, die nicht in Worten, sondern mittels Worten sprechen möchte, etwas unangenehm unnatürlich wirkt. Dieser Roman hätte jedes Potenzial gehabt, an die Grenzen des Denkbaren zu gehen. Er hätte die Leserschaft überraschen, überrumpeln, vielleicht sogar überfordern können. Doch so bleibt er nur eine durchaus spannende Lektüre, die sich schnell und unkompliziert liest, aber dessen Leseeindruck sehr schnell verblasst.

Natalie Buchholz: Unser Glück

Penguin Verlag, 226 Seiten

Preis: 20,00 €

ISBN: 978-3-328-60188-3

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