Zur Schlachtbank in die Wüste

Lauri Kubuitsile: Zerstreuung; Cover: InterKontinental

Für etwas Weidegrund und einen besseren Schutz vor Übergriffen zogen sie in den Krieg – und wurden beinahe vollständig vernichtet: Lauri Kubuitsile berichtet uns in Zerstreuung vom Völkermord an den Herero und kreuzt die Erlebnisse der Überlebenden Tjipuka und ihres Ehemanns Ruhapo geschickt mit der der Burin Riette, welche selbst durch einen Krieg in ihrem bisherigen Leben erschüttert wurde. Die geschickte Psychologisierung einer im Verfall begriffenen Familie führen uns vor Augen, wie furchtbar das ach so fortschrittliche deutsche Kaiserreich wider seinen schwarzen Mitbürgern verfuhr.

von THOMAS STÖCK

Meinen Arbeitsweg verbringe ich oft lesend. So auch einen Tag, an dem ich am Bochumer Hauptbahnhof auf das Eintreffen der S1 wartete. In meiner Hand: Lauri Kubuitsiles Zerstreuung. Eine vorbeikommende junge Frau komplimentierte das von mir hochgehaltene Buch mit den Worten: „Schönes Buch.“ Diese beiden vermutlich gedankenlos hingeworfenen, nett gemeinten Worte ließen mich nachdenklich zurück. Ist schön ein passendes Adjektiv für diese Erzählung? Eine Erzählung, in der die versuchte Vernichtung eines Volkes geschildert und in der der psychische Niedergang der Protagonisten minutiös beschrieben wird? Nein, schön ist nicht das, was mir in den Sinn gekommen ist während meiner Lektüre über den Völkermord an den Herero in Deutsch-Südwestafrika (von den Nama wird weitestgehend nicht berichtet) sowie über den Krieg der Buren gegen die Briten.

Deutsche Kolonialdenke sprengt afrikanische Familienidylle

Im Land der Herero leben die Menschen um Tjipuka und ihren geliebten Ehemann Ruhapo ein einfaches, aber glückliches Leben. Tjipuka und die sie umgebenden Menschen ehren in Südwestafrika um 1900 die Traditionen und erwirtschaften meist nur knapp mehr, als zum Überleben notwendig ist. Tjipuka zählt zu den reicheren Herero, da königliches Blut in ihren Adern fließt. Doch auch sie muss die klassischen Aufgaben einer Ehefrau erbringen, wie auch ihr Mann Ruhapo sich um die klassischen Aufgaben eines Ehemannes kümmern muss. Ruhapo hatte in der Adoleszenz das Herz seiner Frau im Sturm erobert und die Familienidylle vervollständigt die Geburt des kleinen Saul – wäre da nicht das immer einschnürendere Regime des deutschen Kolonialreichs. Den Herero bleibt kaum mehr genug Land zum Überleben. Ruhapo und viele Andere beschließen deshalb, sich gegen die Deutschen und ihre tätlichen Übergriffe zur Wehr zu setzen und ihrerseits zu den Waffen zu greifen.

Was anfänglich wie ein voller Erfolg wirkt, führt zu einem erbarmungslosen Vernichtungskrieg. Den Befehl hierzu erteilt Generalleutnant Lothar von Trotha, der nicht nur die Männer, sondern auch Frauen und Kinder der Herero verfolgen lässt. Bis in die Wüste Namib werden sie getrieben, Wasserquellen werden entweder bewacht oder vergiftet, sodass Tausende in der Wüste qualvoll verdursten. Auch mit Tücke begegnen die Deutschen ihren afrikanischen Opfern: Als sie ihnen einen Friedensvertrag anbieten, gehen die Herero auf das Verhandlungsangebot ein – jedoch werden Letztere brutal abgeschlachtet. Wer nicht gehängt wird, wird erschossen, die Frauen aufs Brutalste vergewaltigt. Als der einseitige Konflikt sich dem Ende zuneigt, werden die Herero-Familien (zumeist Frauen und Kinder, die noch nicht getötet wurden) in Konzentrationslagern interniert, in denen sie zwar nicht systematisch vernichtet werden, ihr Tod jedoch billigend in Kauf genommen wird. Eine Katastrophe in mehreren Akten.

Verfall einer Familie – Allgegenwart des Leids

Das martialisch-menschenverachtende Ambiente des Völkermords an den Herero psychologisiert Kubuitsile auf eindrückliche Weise. An der Protagonistin Tjipuka und ihrem Ehemann zeichnet sie den mentalen Verfall einer typischen Herero-Familie nach. Mit jeder Gräueltat und jedem persönlichen Verlust versinken die beiden immer tiefer in ihrem persönlichen Abgrund, der sich körperlich in ihrem Exodus in die Wüste spiegelt. Ihre Seelen, ehemals im Familienglück wohlbehütet, sehen sich tödlichen Verletzungen ausgesetzt. Eines ist deutlich: Am Ende des Konflikts sind die beiden nicht mehr dieselben – und auch ihre Liebe ist nicht mehr die gleiche. Selbst der Geschlechtsakt verkommt von liebevoller Zweisamkeit zur brutalen Vergewaltigung durch Ruhapo. Sogar nach der gelungenen Flucht nach Betschuanaland lässt sie das Erlebte nicht los.

Tjipukas und Ruhapos Beziehung entfaltet sich vor dem Hintergrund eines großen Beziehungsgeflechts. Figuren kommen und gehen, viele lassen ihr Leben. Unter der weißen Bevölkerung zeigen sich ebenfalls die unterschiedlichsten Charaktere: blutrünstige Söldner, herzlose Pfaffen – aber eben auch mitfühlende Zeitgenossen, die sich für das verübte Leid anderer schämen. Die Einordnung der Weißen wird zusätzlich dadurch verkompliziert, dass auch in ihren Reihen Menschen existieren, die in ein Lager gepfercht wurden, weil ihr Volk sich gewaltsam gegen eine Kolonialregierung erhob. Gemeint sind die Buren, die schon einige Jahre zuvor das britische Empire angriffen, nur um ebenfalls den Krieg zu verlieren. Ihr Schicksal wird verdeutlicht an Riette, einer zwangsverheirateten Burin, die sogar von der Internierung im Lager persönlich zu profitieren scheint. Sie muss gleichermaßen viele Verluste verkraften, denn in Zeiten des Krieges ist das Leid allgegenwärtig.

Weibliche Stimmen, weibliches Leid

In sprachlicher Hinsicht überzeugt Zerstreuung vor allem durch das Durchmischen der Sprachen, wie es in der damaligen Zeit üblich war. Schade ist es, dass den Lesern diese Sprachen nicht durch Übersetzungen nähergebracht werden, da so die Sprache der Herero und der Buren ein Buch mit sieben Siegeln bleibt. Zumindest kann man so aber erahnen, mit welchem Sprachtalent die Zeitgenossen der Jahrhundertwende ausgestattet waren (ganz unabhängig von Hautfarbe übrigens). Die häufigen Perspektivwechsel in der Erzählung dienen vor allen Dingen der Stimmenverleihung an diejenigen, welchen bisher kein Gehör geschenkt wurden: den Schwarzen, den Frauen, den Besiegten. Kubuitsile gelingt es so, die vornehmlich gegen Frauen verübte sexuelle Gewalt zu thematisieren und diese nuanciert abzubilden. Auch die weiblichen Reaktionen auf diese Gewalt reichen von der tätlichen Widersetzung bis zur Hinnahme des Übergriffs – letztere werden uns als Notwendigkeiten präsentiert, um noch Schlimmeres zu verhindern. Die Täter sind dabei Soldaten, vermeintliche Wohltäter oder eben sogar der eigene Ehemann.

Während die Männer als Soldaten in den Krieg zogen, trafen viele der Maßnahmen des Kolonialregimes gezielt Frauen. Die Gräuel und das Leid, das sowohl Frauen als auch Männer vor mehr als 100 Jahren durchleben mussten, entzieht sich unserer Vorstellungskraft. Erzählungen wie die vorliegende lassen uns kopfschüttelnd zurück. Wie kann eine vermeintlich aufgeklärte und zivilisatorisch so weit gediehene Gesellschaft wie das deutsche Kaiserreich ein solches Verbrechen begehen, hinnehmen, gutheißen? Wie kann es sein, dass dieses Verbrechen keine internationalen Gegenmaßnahmen hervorgerufen hat? Das Land der Dichter und Denker mauserte sich schon vor dem Ersten Weltkrieg zum Land der Richter und Henker. Und wir müssen das von ihnen verübte Grauen nochmal durchleben, um den Völkermord an den Herero zu kommemorieren.

Lauri Kubuitsile: Zerstreuung. Aus dem Englischen von Ivana Maurović und Maria Meinel
InterKontinental Verlag, 344 Seiten
Preis: 24,00 Euro
ISBN: 978-3-9823281-3-3

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