Türchen 22: Ulrich Seidls Paradies-Trilogie

Liebe Weihnachtsvermeidende, Feiertaghassende und Festablehnende, ich weiß, dass ihr da draußen seid. Ich weiß auch, wie unwahrscheinlich es ist, dass gerade ihr täglich einen Adventskalender lest oder zufälligerweise genau heute auf diesen Text stoßt. Aber vielleicht können wir die unweihnachtliche Telefonlawine ins Rollen bringen. Ein Grinch schickt ihn an zwei weitere, diese tun dasselbe und immer so weiter. Vielleicht habt ihr ja sogar WhatsApp-Gruppen oder Teamspeak-Channels? Leider kenne ich mich in euren Gefilden nicht so gut aus. Dennoch gibt es heute etwas ganz speziell für euch.

von NICK PULINA

Cringe war ja bekanntlich das Jugendwort des Jahres 2021. Wenn ich das höre, löst es bis heute exakt das damit beschriebene Gefühl bei mir aus. Viel zu oft schwingt in der Fremdscham doch eine gewisse Überheblichkeit der Schämenden mit, ich bin dir moralisch überlegen, und das, was du da machst, ist echt irgendwie … cringe. Also: Vergessen wir das doch mal und steigern es. Wir potenzieren es sogar. Sozusagen Cringe2. Nicht mehr Fremdscham, sondern Fremdabscheu, Fremdversteckenwollen und Fremd-Bitte-nicht. Dieses Gefühl können nur wenige erzeugen, selbst in der Kunst. Sein Meister ist der ebenso gefeierte wie umstrittene österreichische Regisseur Ulrich Seidl.

Liebe Scrooges, ich präsentiere euch das richtige Mittel, um eure negative Grundstimmung über diese komischen drei Christen-Tage im Dezember nicht an armen Keksebackenden und Weihnachtsmarktbesuchenden auslassen zu müssen: Seidls Paradies-Trilogie.

Ursprünglich als ein einziger Film gedacht und erst später aufgebrochen, präsentiert Seidl hier jeweils eine Episode aus dem Leben dreier verwandtschaftlich miteinander verbandelter Frauen. In Paradies: Liebe (2012) begleiten wir die alleinstehende Teresa auf eine vermeintliche Liebesreise nach Kenia. Hier lässt sie sich von den Männern umschmeicheln, schreckt aber auch immer wieder vor deren zunehmend übergriffigen Annährungsversuchen zurück. Bis sie nach einigen Tagen den Mann ihrer Träume – nun, wir wollen es nicht übertreiben: Begierde – findet. Doch nichts entspinnt sich wie geplant und bald schreckt die 53-Jährige nicht mehr davor zurück, den Spieß umzudrehen. Ein Film über Liebe als Ware, die Angst vor der Einsamkeit im Alter und die Folgen des Kolonialismus.

Der noch im gleichen Jahr erschienene Film Paradies: Glaube folgt Teresas streng katholischer Schwester Anna Maria. Sie hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mit einer Marienstatue um die Häuser zu ziehen, ungefragt an Türen zu klingeln, diese ungebeten zu durchqueren und das Wort der Muttergottes in die Welt zu tragen. Egal ob sie wütend vertrieben wird, eine Familie muslimischen Glaubens bekehren will, in der niemand wirklich versteht, was sie und ihre Statue ihnen mitteilen wollen, oder man sie in eine verdreckte Messi-Wohnung bittet: Anna Maria bleibt standhaft. So standhaft, dass sie sich sogar für die Sünden ihrer Nächsten geißelt. Als ihr ebenso streng gläubiger, aber „leider Gottes“ muslimischer Ehemann nach einigen Jahren der Abwesenheit plötzlich wieder vor der Tür steht, muss ein Weg gefunden werden, die beiden Extreme zu vereinen. Was dann passiert, ist verdammenswert – menschlich wie religiös.

Anna Marias 13-jährige Nichte, Teresas Tochter Melanie, wird zur Protagonistin im letzten Teil der Trilogie – Paradies: Hoffnung (2013). Sie verbringt die Zeit, in der sich ihre Mutter in Kenia vergnügt, in einem Abnehmcamp für Kinder und Jugendliche. Was als klassisches Jugendfilm-Narrativ mit „Mädels-Gesprächen“ im Stockbett, ins Zimmer der Jungs Schleichen und Streichespielen beginnt, natürlich eingerahmt von militanten Sport-, Disziplin- und Ernährungs-Coachings, nimmt für Melli eine Wendung, als sie den Arzt kennenlernt, der das Diätprogramm medizinisch betreut. Sie spürt, dass da etwas zwischen ihnen ist, trotz oder gerade wegen der 40 Jahre, die zwischen ihren Geburten vergangen sind. Und fortan sitzt sie immer häufiger auf dem Stuhl vor seinem Behandlungszimmer, blockiert seinem Auto den Weg vom Hof, nimmt ihn mit in den Wald. Seidl stellt brisante Fragen über die jugendliche Sehnsucht nach dem Erwachsensein, die Grenzen der Liebe und die Gefahr des Missbrauchs von Mensch und Macht.

Na, klingt das nicht schon mal völlig unbesinnlich? Und weil Inhalt allein nur Dekoration ist, unterlegt Seidls filmischer Stil jeden einzelnen Streifen mit einer satten Portion Authentizitätsgefühl. Denn abgesehen von den Hauptdarsteller:innen sind hier keine professionellen Schauspieler:innen am Werk. Der Einsatz von Laien und Menschen, die sich selber spielen, erhöht das „Nein. Bitte. Mach das jetzt bitte einfach nicht, ja? Herrje, du machst es doch …“-Gefühl der Paradies-Filme. Drei für sich genommen großartige Filme, die zusammen ein echtes Meisterwerk des neuen deutschsprachigen Films bilden. Und das Beste: Wer am 24.12. anfängt, die Trilogie zu gucken, den bringt sie sogar über alle Feiertage.

Viel Spaß mit eurem Anti-Adventskalender!

Paradies: Liebe (2012)

Paradies: Glaube (2012)

Paradies: Hoffnung (2013)

Regie: Ulrich Seidl

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