Was bleibt, sind Erinnerungen

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher; Cover: Hanser

Das Flucht nicht einfach ist, war klar. Aber wie schwer es sein kann, die alte Heimat hinter sich zu lassen und in einer neuen, fremden Umgebung von vorne anzufangen, davon haben die wenigsten Menschen eine Vorstellung. In Abbas Khiders neuem Roman Der Erinnerungsfälscher wird auf eindrucksvolle Weise die Zerrissenheit eines Geflüchteten zum Gegenstand gemacht.

von SHARLEEN WOLTERS

Bad Hersfeld. Die Stadt, die sich damit rühmt, der Mittelpunkt Deutschlands zu sein, wird für Said Al-Wahid zum Wendepunkt seines Lebens. Wieder einmal. Vor einigen Jahren war er aus dem Irak nach Deutschland geflohen. Nun liegt seine Mutter im Sterben und er möchte so schnell wie möglich in den Irak fliegen, um  sie noch einmal zu sehen. Begleitet wird er dabei von den Erinnerungen an seine Vergangenheit. Doch welche Erinnerungen sind wahr und welche von seinem Gedächtnis verfälscht?

Das Fremde und das Vertraute

Wir begleiten Said auf einer Reise in die Vergangenheit, auf zweierlei Art. Mit der Reise in die Heimat werden in Said die Erinnerungen an seine Kindheit, seine Flucht aus dem Irak und seine Ankunft in Deutschland geweckt. Erinnerungen, die bisweilen schockieren und entsetzen. Angefangen bei der Kindheit im Irak, über die Erlebnisse auf der Flucht, bis hin zu den rassistischen Anfeindungen in Deutschland. Dass Khider sie so nüchtern schildert, macht die Geschehnisse noch eindrücklicher. Und auch die Reise an sich ist wie eine Rückkehr in seine Vergangenheit, in seine alte Heimat.

Doch was ist für Said eigentlich „Heimat“? Zwar wird weiterhin Deutschland als „die Fremde“ deklariert, doch der Irak ist Said in den Jahren seit seiner Flucht ebenso fremd geworden. Während des Lesens wünscht man ihm, dass er irgendwo ankommt und hofft, dass er seine Mutter, eine der Erinnerungen an die alte Heimat im Irak, noch rechtzeitig sehen wird, um ihr Lebewohl zu sagen. Denn wie wir erfahren, gab es in Saids Leben schon zu viele Abschiede ohne Wiedersehen. Gleichzeitig wünscht man sich, dass er einfach in Deutschland bleibt, wo es vermeintlich sicherer ist. Doch wie sicher ist Deutschland für jemanden, der nicht hier geboren ist? Eine Frage, die die Erzählung nahe bringt und  dabei eine Empathie erzeugt, die reißerische Schlagzeilen nicht erreichen können.

Ein wichtiger Beitrag zur deutschen Gegenwartsliteratur

Khider komponiert eine Geschichte, die auf ungeschönte Weise einen Einblick in die Fremde gibt, in das Leben zahlreicher Geflüchteter, die sich in Deutschland ein besseres, ein sicheres Leben erhoffen. Wo sich Gegenwart und Erinnerung abwechseln, könnte man meinen, dass es sehr verwirrend wird. Doch Khiders Gespür für die deutsche Sprache zeigt sich in seiner Nutzung der grammatikalischen Zeiten. Was auf den ersten Blick irritiert, da wenige Autoren im Präsens schreiben, fügt sich im Laufe der Handlung immer mehr in die Geschichte ein.  So wie Said zwischen der Gegenwart und der Vergangenheit springt, so tut es auch Khider. Und so entsteht eine ganz eigene Erzählweise, die poetisch und dennoch klar ist und jegliche Vorurteile gegenüber Einwanderern Lügen straft, die besagen, dass die Bereitschaft zum Erlernen der deutschen Sprache fehle.

Khider, der im Jahr 2000 selbst als Iraker nach Deutschland gekommen ist, erzählt eine Geschichte, die bis zum Schluss rührt, mitunter schockiert und über das Ende hinaus noch einige Zeit nachwirkt. Ein unterschwellig politisches Buch, dass nur eines von vielen möglichen Schicksalen jener Menschen beschreibt, die nicht das Privileg hatten, in Deutschland geboren zu sein. Ein Buch, das schildert statt Vorwürfe zu machen. Ein Buch, von dem man sich wünscht, jede Person, die zwar „kein Rassist [ist], aber…“ würde es lesen.

Abbas Khider: Der Erinnerungsfälscher

Hanser, 126 Seiten

Preis: 19,00 Euro

ISBN: 978-3-446-27274-3

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